»Eine offene Euro-Debatte könnte die Gewerkschaften zerreißen«

Ein Interview der jungen Welt mit Martin Höpner.

13.12.2015
Simon Zeise

Gespräch mit Martin Höpner. Über die Mängel der Gemeinschaftswährung und ­notwendige Alternativen, über Interessengegensätze in den Gewerkschaften und über mögliche politische Strategien zur Bewältigung der Wirtschaftskrise.

Das Interview führte Simon Zeise für die junge Welt. Das Interview mit Martin Höpner erschien am 28.11.2015 in der Wochenendbeilage der jungen Welt auf Seite 1 und kann auf der Webseite der jungen Welt vollständig abgerufen werden.

junge Welt: Warum befindet sich die EU in der Krise? Ist der Euro falsch konstruiert worden?

Martin Höpner: Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man vergessen hätte, dem Euro einen stärkeren EU-Haushalt oder mehr Rechte des EU-Parlaments hinzuzufügen. Das Problem ist nicht, dass dem Euro ein entscheidendes Element fehlen würde. Das Problem ist der Euro selbst.

Das müssen Sie erklären.

Eine Währungsunion kann man ja als Spezialfall eines festen Wechselkursregimes ansehen. Das Instrument der Anpassung steht nicht mehr zur Verfügung, seit die Wechselkurse 1999 unwiderruflich aneinander gebunden wurden. Gibt es nun Inflationsunterschiede, können sie nicht mehr durch Auf- und Abwertungen korrigiert werden. Diese Entscheidung war gewagt und hat sich als schwerer Fehler erwiesen.

War die Euro-Konstruktion zu stark an der D-Mark orientiert?

Das ist eine interessante Frage. Nein, ich glaube nicht, dass dies das Problem ist. Stellen wir uns vor, man hätte sich stärker an den Inflationsraten orientiert, die es in Südeuropa lange Zeit gab, und der Europäischen Zentralbank damit ein höheres Inflationsziel als die derzeitigen zwei Prozent vorgegeben. Oder stellen wir uns vor, man hätte die EZB weniger nach dem Vorbild der Bundesbank aufgebaut, indem man sie weniger unabhängig gemacht hätte. Dann stünden wir heute vor demselben Problem, das darin besteht, dass wir eine Euro-Zone mit festen Wechselkursen, aber ohne Inflationskonvergenz haben. Daher denke ich auch, dass die Kritik an der Unabhängigkeit der EZB oder an der Verpflichtung auf Preisniveaustabilität zu kurz greift.

Es scheint, dass es derzeit eher der politischen Rechten als der Linken gelingt, eine Kritik am Euro zu formulieren. In Frankreich könnte Marine Le Pen 2017 Präsidentin werden …

… So ist es. Das ist einigermaßen beängstigend.

Wie könnte man den Rechten den Wind aus den Segeln nehmen?

Ich plädiere für die Entwicklung einer linken Euro-Kritik. Eine tabufreie Debatte über den Euro müsste auf seiten der deutschen Linken allerdings überhaupt erst einmal eröffnet werden. Ich finde, dass man der Partei Die Linke da ein großes Kompliment machen muss. Sie ist die einzige Organisation, die ich kenne, in der so eine Debatte derzeit ziemlich offen geführt wird. In der SPD: undenkbar. Bei den Grünen: undenkbar. In den Gewerkschaften – aus Gründen, auf die wir vielleicht noch kommen – ebenso. Gleiches gilt für die Stiftungen der genannten Organisationen. Von dieser Kritik möchte ich die Mitbestimmung, das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung, fairerweise ausnehmen. Dieses Magazin hat vor einigen Jahren eine kontroverse Debatte über den Europäischen Gerichtshof gestartet, und auch in der Euro-Frage kommen alle Seiten zu Wort. Aber solche Ausnahmen sind selten.

Haben Sie keine Sorge, dass Ihre Kritik am Euro als nationalistische Wortmeldung wahrgenommen wird?

Nein, denn ich bin ja kein Politiker. Und wenn in der Wissenschaft mit der Nationalismuskeule argumentiert wird, kann ich das nicht ernst nehmen. Wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass man auf das Instrument der Wechselkursanpassung nicht hätte verzichten sollen, dann macht mich das nicht zum europafeindlichen Zeitgenossen. Den Versuch, solche Debatten zu unterbinden, indem man Mitstreiter zu Nationalisten erklärt, finde ich ausgesprochen irritierend.

Wie könnten fortschrittliche Euro-Ausstiegspläne aussehen?

Es gibt historische Vorbilder. Einen konkreten Ausstiegsplan habe ich nicht in der Tasche. Aber mir fällt auf, dass sich die Debatte hierüber verändert. Vor einigen Jahren war noch die Meinung vorherrschend, die Umstellung müsse im geheimen vorbereitet und dann in einem großen Wurf über Nacht durchgeführt werden, jenseits einer demokratischen Öffentlichkeit …

… Ein Geheimplan, wie ihn der frühere griechische Finanzminister Gianis Varoufakis durchgespielt haben soll …

… Genau. Heute scheinen mir hingegen Stimmen zu dominieren, die sich für den langsamen, graduellen Übergang aussprechen. Ein ausstiegswilliges Land könnte eine Parallelwährung zunächst mit begrenzten Funktionen einführen und ihr dann nach und nach neue Aufgaben zuweisen.

Und am Ende stehen dann nationale Währungen und flexible Wechselkurse zwischen diesen?

Nein, flexible Wechselkurse will ich nicht. Die sind der Traum der neoliberalen Euro-Kritiker. Ich plädiere für eine Wechselkursordnung, die sich an den Parametern des Europäischen Währungssystems, des EWS, orientiert, das wir von 1979 bis 1998 hatten. Dieses System beruhte auf Verpflichtungen der Notenbanken, die Wechselkurse innerhalb definierter Bandbreiten zu halten, ließ aber Neuverhandlungen zu, wenn die Inflationsunterschiede zu groß wurden. Die Möglichkeit solcher Anpassungen würde man sich heute wünschen, aber der Euro versperrt sie.

Sie wollen also einen Schritt zurück machen?

Angesichts der großen Probleme der Euro-Zone wäre das ein Schritt nach vorn, nicht zurück. Transnationale wirtschaftliche Ungleichgewichte in dem Ausmaß, wie sie heute herrschen, blieben den EWS-Teilnehmern erspart. Übrigens war das EWS nie ganz weg, denn es existiert noch heute ein sogenannter Wechselkursmechanismus II. An ihm nimmt derzeit aber nur Dänemark teil. Dieser Wechselkursmechanismus könnte reaktiviert und weiterentwickelt werden. Austretende Euro-Länder könnten an ihm teilnehmen, und er könnte auch ein Integrationsangebot an Staaten sein, die dem Euro absehbar nicht beitreten wollen, zum Beispiel Polen.

Kommen wir auf die Gewerkschaften zu sprechen. Der Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK, Gustav Horn, hatte im August die Linke-Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht als »Sozialnationalistin« bezeichnet, weil sie einen Euro-Austritt ins Spiel gebracht hatte.

Ja, da war ich erschüttert. So ein Vorwurf bewegt sich jenseits der Diskursethik, wenn ich so sagen darf. Wir sollten uns gegenseitig zuhören, unsere Sichtweisen sachlich austauschen und die Kraft des besseren Arguments entscheiden lassen. Ich finde solche Etikettierungen von einem hochgeschätzten Kollegen bedauerlich.

Es scheint Horn aber ins Mark getroffen zu haben, sonst hätte er nicht derart reagiert.

Da haben Sie völlig recht. Seine Überreaktion zeigt, wie schwierig das Thema für die Gewerkschaften und daher auch für die ihnen nahestehenden Forschungsinstitute ist. Würde in den Gewerkschaften eine kontroverse Euro-Debatte eröffnet und würde sich dabei ein Euro-kritischer Pol herauskristallisieren, dann könnte sie das geradezu zerreißen. Die Positionen würden sich unvereinbar gegenüberstehen. Denn für die Exportgewerkschaften IG Metall und IG BCE bedeutet der Euro, dass Deutschland in einer effektiven Unterbewertungskonstellation verharren kann. Das kommt dem Exportsektor zugute und verlangsamt die Deindustrialisierung. Hier haben wir also ein nacktes ökonomisches Interesse. Allgemein kann man sagen, dass das deutsche Exportregime mit seinem Antiinflationskonsens nicht nur praktisch alle Parteien, sondern auch die Arbeitgeber und Gewerkschaften umfasst. Und wenn sich bei letzteren eine kritischere Haltung zum Euro entwickeln sollte, dann werden ihre Träger gewiss nicht die Exportgewerkschaften sein, sondern eher die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Denn dem Binnensektor fehlt das unmittelbare Interesse an der Unterbewertungskonstellation.

Im Gegensatz zum Industriearbeiter im Exportsektor, dessen Arbeitsplatz sicherer geworden sein mag, hat die Einzelhandelsverkäuferin unter dem deutschen Lohndumping gelitten. Werden dadurch Kräfteverhältnisse innerhalb der Arbeiterklasse verschoben?

Das ist ein interessanter Punkt. Marxistisch geschulte Mitstreiterinnen und Mitstreiter betonen die Interessengegensätze zwischen sozialen Klassen. Ich habe da auch keine Einwände. Aber sektorale Konfliktlinien sind genauso fundamental und wirkungsmächtig wie die Konfliktlinien zwischen den Klassen. Die deutsche Lohn­entwicklung blieb während der ersten zehn Jahre nach der Einführung des Euros hinter den Lohnsteigerungen der Nachbarn zurück. Geben die Unternehmen die Nominallohnzurückhaltung vollständig in Form sinkender Preise an die Verbraucher zurück, dann sinkt die Binnennachfrage nicht. Aber das geschah nicht in Gänze. Ein Teil des vergleichsweise geringen Lohndrucks ging in die Preise und bewirkte Disinflationierung gegenüber den Nachbarn, das war gut für den Exportsektor und begünstigte die Entstehung und Persistenz der mittlerweile exorbitanten Leistungsbilanzüberschüsse. Der andere Teil der Nominallohnzurückhaltung blieb gewissermaßen in der Lohnquote hängen und bewirkte eine unterentwickelte Binnennachfrage. Das war schlecht für den Dienstleistungssektor. Es gab also unterschiedliche Sichtweisen auf die makroökonomische Konstellation, je nachdem, ob man dem Exportsektor oder dem Binnensektor angehörte. So etwas könnte man als sektoralen Interessengegensatz bezeichnen.

Aber die Euro-Krise geht doch auch an den sogenannten Exportgewerkschaften nicht spurlos vorbei. In Südeuropa werden weniger deutsche Waren gekauft, weil die Länder seit Jahren nicht auf die Beine kommen. Darunter leiden wiederum die Mitglieder der IG Metall. Müsste man den Euro dort nicht ebenfalls kritischer sehen?

Ich nehme davon nichts wahr. Sie etwa?

Die Euro-Krise ließe sich entspannen, wenn es in Deutschland eine Serie kräftiger Lohnsteigerungen und mehr Inflation gäbe. Das müsste doch auch für die IG Metall attraktiv sein.

Einspruch! Denn die IG Metall müsste das ja ihrer Basis vermitteln, darunter den mächtigen Betriebsräten in den Großunternehmen. Überlegen Sie mal, was das bedeuten würde: Die müssten akzeptieren, dass die Tarifpolitik auf das Ziel verpflichtet wird, die preislichen Wettbewerbsvorteile ihres Sektors zu reduzieren, um den Exportsektor wieder auf Normalmaß zu schrumpfen. Nein, das ist zu viel verlangt. Die Betriebsräte würden da nicht mitmachen, sie würden die Lohnsteigerungen im Rahmen unternehmensbezogener Pakte gegen Arbeitsplatzsicherheit tauschen. Ich habe wache Erinnerungen an den gescheiterten Streik zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche im Osten, im Jahr 2003 war das. Die Betriebsräte im Westen konnten damit nichts anfangen, und die Solidarität sackte in sich zusammen, sobald deren Unternehmen betroffen waren. Das war meiner Wahrnehmung nach das letzte Mal, dass die IG Metall versuchte, Tarifpolitik gegen die Interessen der starken Betriebsräte zu führen.

Aber dass wir uns hier nicht falsch verstehen: Ich will das gar nicht kritisieren. Die machen ihren Job, der nun mal darin besteht, die Arbeitsplätze der Kolleginnen und Kollegen zu schützen. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass es Ideen zur Rettung des Euro gibt, die die Rechnung ohne diejenigen machen, auf die die Tarifpolitik nun einmal angewiesen ist. Man kann die Tarifpolitik nicht für alle nur möglichen Zwecke vereinnahmen. Und wenn der Euro nur so zu retten ist, dann liegt der Fehler dort, beim Euro selbst, nicht bei der Tarifpolitik oder den Kolleginnen und Kollegen in den Unternehmen.

Angesichts des Kurses der Europäischen Union macht sich Ernüchterung breit. Wer könnte das Ruder Ihrer Ansicht nach herumreißen? Sie hoffen auf ver.di und Die Linke?

Bitte erlauben Sie mir, dass ich diese Frage umschiffe. Bevor man überlegt, wie und mit wem man ein Programm umsetzt, braucht man ja erst einmal das Programm. Von dem sind die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland aber noch weit entfernt. Ein erster Schritt wäre, dass man aufhört, die Europäische Union und den Euro vor Kritik abzuschirmen. Aufhört, sie zu sakralisieren, wie Peter Wahl neulich in den Blättern für deutsche und internationale Politik treffend schrieb. In manchen Bereichen würden wir uns gewiss ein aktiveres Europa wünschen, aus anderen, wie etwa der Tarifautonomie, sollte sich Europa hingegen mehr heraushalten.

Wie greifen die Kommission in Brüssel und der EuGH in Luxemburg in die Tarifautonomie ein?

Seit 2007 hat der EuGH begonnen, seine Rechtsprechung zu den Binnenmarktfreiheiten auf Tarifverträge und Streikmaßnahmen auszudehnen. Das waren die berühmten Urteile zu Viking¹ und Laval, mittlerweile handelt es sich um eine gefestigte Linie der Rechtsprechung. Die Tarifautonomie wird damit zur potentiellen Binnenmarktstörung. Das ist inakzeptabel. Ähnliche Probleme finden wir im europäischen Wettbewerbsrecht vor, das auf immer neue öffentliche Sektoren ausgedehnt wird. Hier muss das Europarecht mit Stoppschildern versehen werden. All diese Probleme müssten zu Gegenständen der europapolitischen Programme fortschrittlicher Kräfte werden. Wer seinen Finger hier in die Wunden legt, ist weder Nationalist noch Antieuropäer. Derzeit befindet sich die EU inmitten einer von Großbritannien angestoßenen Reformdebatte. In diese Debatte müssten auch die Probleme eingespeist werden, die sich aus den europäischen Angriffen auf die Tarifautonomie ergeben. Wenn ich als unabhängiger Wissenschaftler dazu beitragen kann, diese Debatten zu führen, dann freut mich das.

Könnte die Forderung nach einem europäischen Mindestlohn Teil eines fortschrittlichen europapolitischen Programms sein?

Ich bin sehr dafür, die Kämpfe für anständige Löhne, insbesondere am unteren Ende der Einkommen, effektiv europäisch zu koordinieren. Von der Forderung nach einer europäischen Mindestlohnrichtlinie würde ich derzeit aber abraten. Man muss sehen, dass die skandinavischen Gewerkschaften gesetzlich verordnete Mindestlöhne nicht wollen, weil sie ein anderes Tarifmodell haben. Vor allem aber ist es ein Problem, dass man der Kommission zuerst einmal eine Kompetenz zur Vorlage von Richtlinien- und Verordnungsvorschlägen in Lohnfragen geben müsste. Derzeit ist europäische Gesetzgebung in Lohnfragen durch das europäische Primärrecht kategorisch ausgeschlossen. Was würde die Kommission mit einer Gesetzgebungskompetenz in Tariffragen anfangen? Sie hat es mit ihrem Verordnungsvorschlag mit dem Namen Monti II vorgeführt. Mit diesem Vorschlag wollte sie die EuGH-Rechtsprechung zu Viking und Laval gesetzlich kodifizieren und zudem ein europäisches Überwachungssystem für Streikmaßnahmen mit transnationalen Auswirkungen einführen. So lange die Kommission in der Tarifautonomie nichts anderes erkennt als eine potentielle Binnenmarktstörung, sollte man sie hier nicht mit neuen Kompetenzen ve rsorgen – das wäre ein Eigentor.

¹ Das finnische Fährunternehmen Viking, dessen Schiffe von Helsinki nach Tallin fahren, wollte statt der heimischen lieber niedrigere estnische Löhne bezahlen. Der EuGH wertete Streikmaßnahmen gegen die Pläne als unzulässigen Eingriff in die Marktfreiheiten. Das lettische Bauunternehmen Laval wollte eine Schule in Schweden renovieren und dafür lettische Bauarbeiter beschäftigen. Schwedische Gewerkschafter blockierten die Baustelle, um zu erzwingen, dass Laval Löhne auf dem schwedischen Niveau zahle. Der Europäische Gerichtshof entschied Ende 2007, dass die Boykottmaßnahmen gegen die EU-Entsenderichtlinie verstießen.