Bundeskanzler Merz regiert womöglich ohne legitime Mehrheit
Welt.de
»Rund 9500 Stimmen fehlten dem BSW zum in den Bundestag. Angesichts zahlreicher Unregelmäßigkeiten fordert der designierte Parteichef im WELT-Gastbeitrag eine Neuauszählung – und erklärt, was das für die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hieße.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist bei der Bundestagswahl im Februar 2025 so knapp wie keine andere Partei zuvor an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Diese Hürde wurde mit der Instabilität der Weimarer Republik begründet. Das bedeutet allerdings auch, dass nur Parteien ausgeschlossen werden dürfen, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erzielten. Dies ist beim BSW jedoch keineswegs sicher.
Sollte das BSW noch in den Bundestag einziehen, verfügt die Koalition aus CDU/CSU sowie SPD über keine Mehrheit im Bundestag. Ohne eine schnelle Neuauszählung droht daher eine Verfassungskrise, die das Vertrauen in die Demokratie erschüttern könnte. Denn Bundeskanzler Friedrich Merz regiert womöglich ohne legitime Mehrheit.
Strukturelle Zählfehler zu Lasten des BSW
Laut dem endgültigen Wahlergebnis kam das BSW auf 4,981 Prozent der Zweitstimmen. Es fehlten lediglich rund 9500 Stimmen bzw. 0,019 Prozent, um den Einzug in den Bundestag zu schaffen. Dabei traten in weniger als zehn Prozent der 95.000 Wahllokale (Wahlbezirke) fast 4300 Stimmen für das BSW gegenüber dem vorläufigen Ergebnis hinzu. Denn nach der vorläufigen Auszählung der Stimmen, die unter hohen Zeitdruck erfolgt, prüfen die Wahlleitungen Auffälligkeiten in den Wahldaten. Diese Routine betrifft etwa rechnerische Fehler in den Schnellmeldungen der Kreiswahlleiter am Wahlabend.
Zum Vergleich: Bei ihrem ersten Wahlantritt bei einer Bundestagswahl erzielte die AfD nur 4,7 Prozent, Zählfehler waren daher im Hinblick auf die Fünf-Prozent-Hürde nicht erheblich. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Mülheim trennten die Kandidaten von CDU und SPD lediglich 0,4 Prozent; es wurden nur wenige Zählfehler (Vertauschung einer Wahlurne) festgestellt. Um das Vertrauen in den Wahlprozess zu sichern, wurde die Wahl jedoch sofort vollständig neu ausgezählt.
Etwa 60 Prozent aller im vorläufigen Wahlergebnis korrigierten Stimmen entfielen auf das BSW, mehr als auf alle anderen Parteien zusammen. Dies ist für eine 5-Prozent-Partei ein extremer Wert. 2021 entfielen die meisten Stimmkorrekturen noch auf die stärksten Parteien. Dies offenbart strukturelle Zählfehler, die sich unter anderem mit der Position des BSW auf dem Wahlzettel erklären lassen. In den meisten Bundesländern stand die Kleinstpartei Bündnis Deutschland direkt über dem BSW auf dem Wahlzettel.
Keine einheitliche Wahlprüfung
Es liegt jedoch im Ermessen der Kreiswahlleiter, ob sie auffällige Wahldaten noch einmal nachzählen. So wurden in etlichen Fällen BSW-Stimmen durch Wahlhelfer dem Bündnis Deutschland zugeordnet. In etwa 150 Wahllokalen haben noch keine Überprüfungen stattgefunden, obwohl das Bündnis Deutschland dort viele und das BSW wenige oder gar keine Stimmen erhalten haben soll. In den angrenzenden Wahllokalen war es genau umgekehrt. Dies ist bei bundesweit 76.000 Stimmen für das Bündnis Deutschland und 2,5 Millionen Stimmen für das BSW nicht plausibel.
Überprüfungen, wie sie in Aachen durchgeführt wurden, haben bestätigt, dass bei solchen extremen Anomalien Stimmen des BSW falsch zugeordnet wurden. Doch nicht alle Kreiswahlleiter prüfen solche Daten selbstständig. Man benötigt die Daten der einzelnen Wahllokale, um statistische Auffälligkeiten und somit potenzielle Zählfehler überhaupt zu erkennen. Doch in Deutschland herrscht eine föderale Datenwüste. In einigen Bundesländern wurden diese Daten zwar auf Ebene der Wahlkreise, aber nicht für die Wahllokale überhaupt rechtzeitig zur Verfügung gestellt. Die Kreiswahlausschüsse hatten teilweise bereist getagt, bevor wir Kreiswahlleiter um Prüfung der Anomalien in den Daten ansprechen konnten.
Die Landeswahlleiterin von NRW hat 64 Kreiswahlleiter gebeten, die Anomalien zu Lasten des BSW und zugunsten des Bündnisses Deutschland noch einmal zu prüfen. Der Landeswahlleiter von Bayern räumte hingegen in einer Stellungnahme ein, dass es in Bayern solche „atypischen Daten“ gäbe; es habe aber keine Notwendigkeit bestanden, diese zu prüfen.
Zudem haben uns Wahlhelfer in schriftlichen Erklärungen bestätigt, dass Stimmzettel, auf denen nur die Zweitstimme dem BSW gegeben wurde, in Einzelfällen als ungültig gewertet wurden. Offenbar gingen einige Wahlhelfer davon aus, dass Stimmzettel nur mit beiden Stimmen gültig seien. Das BSW trat jedoch überwiegend ohne Erststimmenkandidaten an. Es gab auffällige Korrelationen zwischen schwachen BSW-Ergebnissen in Wahllokalen und hohen Anteilen ungültiger Stimmen.
Wahldaten sind ein öffentliches Gut
Bis heute haben die Bundeswahlleiterin und die Landeswahlleiter nicht transparent gemacht, aus welchen Gründen knapp 4300 Stimmen im vorläufigen Wahlergebnis für das BSW hinzugekommen sind. Auch die Veränderungen durch Nachzählungen werden trotz Bitte des BSW nicht vollständig öffentlich gemacht.
Das BSW hat Anomalien im Umfang von etwa 4000 Stimmen in den endgültigen Wahldaten identifizieren können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit BSW-Stimmen entsprechen. Darüber hinaus haben wir alle 299 Kreiswahlleiter angeschrieben, um Veränderungen durch Nachzählungen in Erfahrung zu bringen. Die Daten wurden jedoch nur teilweise offengelegt. Wir haben aus diesen Daten alle Nachzählungen mit „BSW-Bias“ entfernt, die mit von außen erkennbaren Anomalien zu Ungunsten des BSW zu tun hatten, und konnten so eine Stichprobe von 50 Nachzählungen eingrenzen, die keinen Bezug zum BSW hatten. Unter dem Strich kamen nach Überprüfung jedoch 15 Stimmen für das BSW hinzu. Hochgerechnet auf das Bundesgebiet entspräche dies 28.000 Stimmen, auch wenn die Stichprobe klein ist. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages könnte die fehlenden Daten bei den Wahlleitern anfordern. Wir erwarten, dass der Ausschuss unseren Wahleinspruch aus Befangenheit ablehnt.
In mehreren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass auch endgültige Wahlergebnisse immer Fehler enthalten. Denn den 650.000 ehrenamtlichen Wahlhelfern unterlaufen Fehler. Ein knappes Wahlergebnis ist jedoch an sich noch kein Grund, nachzuzählen. Wenn jedoch eine nicht allzu fernliegende theoretische Möglichkeit besteht, dass ein Parlament bei Korrektur von Wahl- oder Zählfehlern anders zusammengesetzt wäre (Mandatsrelevanz), und es einige belegte Zählfehler gibt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1991 bei einer Landtagswahl eine vollständige Auszählung eines betroffenen Wahlkreises bestätigt.
Zunächst muss jedoch der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages entscheiden, wobei dieser Richter in eigener Sache ist. Dies ist ein absurdes Relikt aus der Weimarer Zeit, als der Reichstag fürchtete, dass kaisertreue Richter die Wahlen sabotieren könnten. Der Wahlprüfungsausschuss verschleppt daher eine Entscheidung, um dem BSW den Weg nach Karlsruhe zu versperren. Es braucht daher dringend eine Reform der Wahlprüfung.
Kanzlermehrheit auf dem Spiel
Nicht nur die Kanzlermehrheit stünde auf dem Spiel, auch die Opposition würde bei einem Einzug des BSW etliche Mandate verlieren. Zudem gäbe es mit dem BSW keine Ausreden mehr, auf Untersuchungsausschüsse zur Zeit der Corona-Pandemie, zu den Maskendeals von Jens Spahn oder zu den Anschlägen auf Nord Stream zu verzichten, die derzeit an der Brandmauer zur AfD scheitern. Die AfD ist unser politischer Gegner. Aber wir wären bereit mit Linken oder Grünen, aber auch mit der AfD solche Untersuchungsausschüsse einzusetzen.
Immer mehr Experten unterstützen die Forderung des BSW nach einer Neuauszählung, darunter die Publizistin Franziska Augstein, der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, der Staatsrechtler und ehemalige sächsische Verfassungsrichter Christoph Degenhart, der ehemalige Bundesrichter Wolfgang Neskovic, der ehemalige Vize-Präsident der EU-Kommission Günter Verheugen und der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Auch die renommierten Politikwissenschaftler Eckhard Jesse und Uwe Wagschal halten eine Neuauszählung in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine“ für „dringend geboten“.
Wenn das BSW in den Bundestag einzieht, muss sich Friedrich Merz neue Mehrheiten suchen. Er könnte beispielsweise eine Minderheitsregierung bilden, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt. Die Grünen würden mit Sicherheit wieder mit saurer Miene vor die Kameras treten und unter großen Bauchschmerzen ihre staatspolitische Verantwortung für die Kanzlermehrheit betonen. Die Linke hat Merz bereits bei der Kanzlerwahl aus der Patsche geholfen und im Bundesrat eine Reform der Schuldenbremse nur für Rüstungsausgaben durchgewinkt. Die AfD steht bereits Schlange, um sich transatlantischer auszurichten und Renten zu kürzen. Sicher ist nur: Demokraten lassen neu auszählen!«
