Deutsche Gründlichkeit?
Gastbeitrag Berliner Zeitung: Warum die Bundestagswahl überprüft werden sollte
Erschienen in Berliner Zeitung
Deutsche Gründlichkeit?
Das BSW scheiterte mit 4,972 Prozent so knapp wie noch keine Partei an der 5-Prozent-Hürde. Doch dies scheint bei näherer Überprüfung nicht einmal sicher. Daten sind ein öffentliches Gut. Dies gilt erst recht für den demokratischen Wahlakt. Parteien haben das Recht, sogenannte Wahl- und Zählfehler in den Wahllokalen zu beanstanden. Jedoch werden die Daten aus den Wahllokalen, die man braucht, um Probleme zu erkennen, von etlichen Bundesländern erst dann zur Verfügung gestellt, wenn die Wahlprüfungen bereits abgeschlossen sind. Dies ist ein offenkundiger Rechtsverstoß.
Laut dem deutschen Wahlrecht sind zudem nur Parteien vom Bundestag ausgeschlossen, die weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen (Ausnahmen gelten für die dänische Minderheit sowie bei der Erzielung von drei Direktmandaten). Beim BSW ist jedoch fraglich, ob wir tatsächlich an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind. Daher ist bei einem so knappen Wahlergebnis eine Überprüfung zwingend.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) scheiterte mit 4,972 Prozent der Zweitstimmen knapp an der 5-Prozent-Hürde. Es fehlten laut dem vorläufigen Wahlergebnis nur 0,028 Prozent oder 13 435 Stimmen der rund 50 Millionen Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme zur Bundestagswahl abgaben. Noch nie hat eine Partei den Einzug in den Bundestag so knapp verfehlt, zumal beim ersten Wahlantritt. Fast 2,5 Millionen Wählerinnen und Wähler für das BSW sind ein einmaliger Erfolg in der deutschen Parteiengeschichte. Die AfD hatte 2013 nur 4,7 Prozent der Zweitstimmen, heute steht sie bei über 20 Prozent.
In zahlreichen Wahllokalen wurden dem BSW jedoch zu wenig Stimmen zugesprochen, wie Überprüfungen ergaben auf die unsere Partei vielerorts erst drängen musste. Eine Nachzählung der BSW-Stimmen ist daher zwingend geboten.
Auch wenn der knapp verpasste Einzug bitter ist. Wir geben nicht auf. Dies gilt erst recht angesichts der Umstände: Uns wurden etwa vom Umfrageinstitut Forsa kurz vor der Wahl völlig unplausible drei Prozent der Stimmen bescheinigt. Es sollte dringend dahin zurückgekehrt werden, dass Wahlprognosen in zeitlicher Nähe zum Wahltermin untersagt werden, wie dies früher der Fall war.
Harter Gegenwind
Wir sahen uns zudem über Monate nach den ostdeutschen Landtagswahlen einer feindseligen Medienberichterstattung ausgesetzt. So wurden etwa vermeintliche BSW-Rebellen, die den Hamburger Landesverband versuchten zu chaotisieren, über Wochen durch die Medien gereicht und als aufrechte Streiter für innerparteiliche Demokratie dargestellt – bis diese schließlich einen Polizeieinsatz beim Hamburger Landeswahlausschuss auslösten. Noch am Wahltag wurden falsche Exit-Polls in sozialen Medien gestreut. Dies sind Befragungen von Wählern, die aus der Wahlkabine kommen, die den Parteien bereits vor der 18-Uhr-Hochrechnung - unter der Auflage diese nicht öffentlich zu machen - zur Verfügung gestellt werden. Die Fake-Zahlen wurden auch von Journalisten unter der Hand verbreitet. Diese taxierten das BSW bei drei Prozent und hatten den offensichtlichen Zweck, Wähler von der Wahl des BSW abzuhalten, da diese befürchten mussten, dass ihre Stimme für eine Drei-Prozent-Partei verloren wäre. Das Verbreiten falscher Exit-Polls muss dringend strafrechtlich verfolgt werden. Selbstverständlich spielten auch hausgemachte Probleme wie die Regierungsbeteiligung in Thüringen eine Rolle.
Man wollt keine Friedenspartei im Bundestag
Die Meinungsführer im Land haben das knappe Scheitern des BSW gefeiert wie ein Fußballmatch. Das Spiel ist leicht zu durchschauen: Man hat vor der Wahl meine frühere Partei Die Linke wegen gefälliger TikTok-Videos in den Leitmedien gefeiert. Die Linke erzielte zur Jahreswende plötzlich eine auffällig verstärkte Reichweite in sozialen Medien (übrigens noch vor der Debatte über das Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag und einem viralen Anti-Afd-Video der linken Frontfrau Heidi Reichinnek). Nun wird Die Linke seit dem Wahltag plötzlich in die Mangel genommen, irren Rüstungspakten über 400 Milliarden Euro (ein kompletter Bundeshaushalt) zuzustimmen. Denn hierfür wären wegen der Schuldenbremse eine verfassungsändernde 2/3 Mehrheit des Bundestages erforderlich. Die Aufrüstung soll nun vom alten Bundestag durchgesetzt und der finanzpolitische Spielraum für den zukünftigen Bundestag damit dramatisch eingeschränkt werden.
Etliche Journalisten verkünden offen ihre Erleichterung, dass Die Linke statt das BSW den Einzug in den Bundestag schaffte. Denn ihre Einschätzung ist wahrscheinlich korrekt: In den Reihen der Linken würden sich im Zweifel ein paar Abgeordnete finden lassen, die die Hand für ein Sondervermögen für den militärisch-industriellen Komplex heben. Signale in diese Richtung gibt es von den „Silberlocken“ Dietmar Bartsch, der die Ablehnung von Waffenexporten in Frage stellte, sowie von Bodo Ramelow, der Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine befürwortet und ukrainische Männer, die sich in Deutschland dem Wehrdienst entziehen, zurück an die Front schicken möchte. Nach dem Clash zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus machte Gregor Gysi Andeutungen, es gelte Rüstung in Europa zu forcieren. Es ist kein Zufall, dass es kein einziges Tik-Tok-Video des digitalen Shooting-Stars der Linken Heidi Reichinnek zu den Kriegen in der Ukraine oder Gaza gab.
Nur etwa 20 Prozent der Linken-Wähler sind gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Und der Parteivorsitzende Jan van Aken will Energiesanktionen verschärfen. Denn die junge aktivistische Wählerschaft ist geprägt von sozialen Medien. Dort zählt weniger, ob der völkerrechtswidrige Ukraine-Krieg eine komplexe Vorgeschichte samt drohender Ausdehnung der NATO an die russischen Grenzen hat, wie wie viele Menschen bereits auf dem Schlachtfeld gestorben sind oder ob die Sanktionen unserer Wirtschaft stärker schaden als Putin. Dem jungen Wählermilieu der Linken missfällt, dass Russlands Präsident mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd sitzt und mit harter Hand den russischen Oligarchen-Kapitalismus führt. Das ist zwar verständlich, aber hilft wenig bei der Schaffung von wechselseitiger Sicherheit in Europa.
Warum eine Prüfung der Wahldaten zwingend ist
Eine erneute Prüfung der Wahldaten des BSW ist jedoch zwingend. Denn es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das BSW tatsächlich sogar fünf Prozent der Wählerstimmen erzielte. Selbst wer sich über das Scheitern des BSW freut, sollte in Betracht ziehen, dass auch die FDP oder die Grünen einmal mit über 4,9 Prozent der Wählerstimmen knapp an der Hürde vorbei schrammen könnten. Wahrscheinlich würden dann von BILD oder TAZ schnell Forderungen nach Nachzählungen der Wahlstimmen laut.
Tatsächlich gibt es eine extreme Häufung von Fällen, in denen das BSW mit 2,5 Millionen Wählern in einzelnen Wahllokalen mit 0 Stimmen, die knapp über dem BSW auf dem Wahlzettel positionierte rechte Kleinstpartei Bündnis Deutschland (BD) mit ihren bundesweit etwa 79 000 Zweitstimmen hingegen mit etlichen Stimmen aufgeführt wurde. In Aachen und weiteren Städten wurden Fälle bekannt, in denen das BSW 0 Prozent der Stimmen erhielt, die Kleinstpartei BD aber plötzlich 5 oder 7 Prozent der Wählerstimmen auswies. Eine solche Anomalie ist statistisch nahezu ausgeschlossen. Es bestätigte sich, dass man hier bei der Übertragung der Wahldaten in der Zeile verrutscht war. Genau dies wurde nun bei von uns angemahnten Überprüfungen auch in weiteren Wahllokalen festgestellt. In Nordrhein-Westfalen sollen auf Anweisung der Landeswahlleitung nunmehr alle 64 Wahlkreise (21 Prozent aller Wahlkreise in Deutschland) nochmal überprüft werden.
Dieses Phänomen des Zeilenfehlers ist nicht neu. Denn neue Parteien werden weit unten auf dem Wahlzettel positioniert und es kommt häufiger zur Verwechslungen. Dies betraf 2009 die Piraten und 2013 die AfD. Die AfD beantragte jedoch 2013 keine flächendeckenden Nachzählungen, da sie mit 4,7 Prozent zu weit entfernt von der 5-Prozent-Hürde lag. Dies ist beim BSW anders.
In uns bekannten Fällen war den Wählern des BSW aufgefallen, dass das BSW in ihrem Wahllokal mit null Stimmen ausgewiesen wurde, obwohl sie uns dort gewählt hatten. In einigen dieser Fälle haben sie sich anschließend beschwert und es wurde daraufhin eine Korrektur vorgenommen. Aber nicht in allen Fällen ist dies für uns aus veränderten Gemeindedaten transparent nachvollziehbar.
Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL fand in einer nachträglichen Auswertung der vorläufigen Wahlergebnisse der Europawahl allein im Falle dieser statistischen Anomalie zu Ungunsten des BSW und zu Gunsten des BD 4400 Stimmen, die mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dem BSW zuzuordnen waren, aber dem BD gutgeschrieben wurden. Beim tatsächlichen amtlichen Endergebnis waren es dann nur noch 1600 Stimmen dieser Kategorie. Die Wahlbehörden hatten also selbst die Anomalie in einigen Fällen überprüft und zu zwei Dritteln behoben. Warum dies bei den 1600 Stimmen mit wahrscheinlichem Rest-Fehler nicht erfolgt ist, ist nicht bekannt.
Naheliegend ist jedoch, dass hier erst gar nicht mehr geprüft wurde. Denn wir haben Wahlbehörden auf derartige Anomalien aufmerksam gemacht und in etlichen Fällen wurde uns mitgeteilt, dass es für eine Überprüfung bzw. Korrektur zu spät sei. Denn diese kann nur auf der Ebene des Kreiswahlausschusses korrigiert werden. Doch die Daten der einzelnen Wahllokale, um selbstständig derartige Anomalien zu recherchieren und zu bemängeln, werden von zahlreichen Bundesländern - darunter die größten Flächenländer - nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt. Selbst wenn sich diese vereinzelt auf den Homepages der Gemeinden finden lassen, sind sie nicht in einheitlichen Datenbanken aufbereitet. In größeren Flächenländern geht es dabei um tausende von Wahllokalen.
Tausende Stimmen zu wenig
Die vom Spiegel beobachteten 4400 Stimmen würden die Lücke des BSW bei der Bundestagwahl bereits auf 9000 Stimmen reduzieren. Hinzu kommen weitere statistische Anomalien, die ebenfalls null oder wenige Stimmen des BSW in einem Wahllokal und Verzerrungen bei anderen Parteien enthalten. So kam es in einzelnen Wahllokalen auch zu Übertragungsfehlern zum Beispiel mit der MLPD. Wenn man in diesen statistisch unwahrscheinlichen Extremfällen (0 oder wenige Stimmen BSW) annimmt, dass das BSW tatsächlich Stimmen entsprechend seinem jeweiligen Landesdurchschnitt im jeweiligen Wahllokal erhielt und die vorhandenen Daten mehrerer Bundesländer in Ost wie West auf das Bundesgebiet hochrechnet, landet man sogar bei etwa 6000 Stimmen, die evtl. dem BSW zustünden und eigentlich überprüft werden müssten.
Wir konnten in den wenigen Datensätzen, die uns zur Verfügung stehen, bisher solche extremen Anomalien im Umfang von etwa 2500 Stimmen aus 100 Wahlbezirken (die Ebene unter den 299 Wahlkreisen) identifizieren. Doch uns liegen keine vollständigen Daten auf Ebene der Wahllokale vor. Die Daten lassen sich auch nicht einfach hochrechnen, da die Fehlerquellen zwischen den Bundesländern sehr unterschiedlich ausfallen und uns insbesondere Daten aus großen Bundesländern wie Bayern fehlen. Aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung wäre es zumindest naheliegend, dass der Fehler diesmal sogar größer als bei der Europawahl ausfallen dürfte. Denn an der Bundestagswahl beteiligten sich etwa 10 Millionen Wähler mehr- Etwa 5000 fehlende Stimmen wäre vor diesem Hintergrund eine vorsichtige Schätzung (600 Stimmen mehr als bei der Europawahl)
Hinzu kommen weitere dokumentierte Fehlerquellen: So lassen sich bei der Übertragung der Ergebnisse aus den Wahllokalen an die Wahlkreise und von dort an die Landeswahlleiter und von diesen wiederum an die Bundeswahlleiterin Diskrepanzen beobachten. Normalerweise sollte man erwarten, dass diese Diskrepanzen aus Meldefehlern statistisch so verteilt sind, dass sie sich auf die Parteien gleichmäßig verteilen und sich die Fehler in großen Datensätzen ausmitteln. Auch hier konnten wir die Daten nur teilweise prüfen. In einer vorläufigen Auswertung, die nur sechs Bundesländer umfasste (darunter Bayern, aber nur mit zwei Wahlkreisen), stießen wir aber in 75 der bundesweit 299 Wahlkreise auf Diskrepanzen beim BSW, die in 68 Wahlkreisen zu Ungunsten des BSW ausfielen und in der Summe 1663 Wählerstimmen entsprachen.
Damit wären also unter Hinzurechnung der oben erläuterten extremen statistischen Anomalien bereits bei über 6600 Stimmen bzw. die Hälfte der Lücke zur 5-Prozent-Hürde geschlossen. Geht man nur von den von uns selbst identifizierten Fehlern in nur einem Bruchteil der Datensätze aus, wären es mindestens 4163 Stimmen (2500 Anomalien und 1500 Meldefehler) und bereits fast ein Drittel der fehlenden Lücke geschlossen. Es ist aber anzunehmen, dass die extremen Anomalien (0 oder wenige Stimmen BSW) nur zu einem Bruchteil von den kommunalen Wahlverantwortlichen selbstständig überprüft werden - wie das Beispiel der Europawahl zeigte.
Weitere Fehlerquellen: Anomalien, Zählfehler, Ungültige Stimmen
Es gibt vier weitere potenzielle Fehlerquellen in den Wahldaten, bei denen aktuell nur mit Hypothesen gearbeitet werden kann:
Erstens kursieren unterschiedliche Zahlen zur Anzahl der einzelnen Wahllokale in Deutschland. Einige Medien berichten von etwa 90 000 Wahllokalen. Wenn im Umfang von rund 5000 Stimmen eine Verwechslung mit dem BD vorliegt, und es zumeist um Größenordnungen von 30 bis 50 Stimmen in den Wahllokalen geht, ist überschlägig anzunehmen, dass solche Zeilenfehler in mindestens hundert Wahllokalen auftraten. Fehler passierten demnach in jedem 900sten Wahllokal. Und zwar bei einem konzentrierten Vorgang wie der Eintragung von BSW-Wahlergebnissen in eine finale Tabelle. Wenn aber die konzentrierte Eintragung von Wahlergebnissen in eine Tabelle durch Wahlhelfer in jedem 800sten Fall schiefging, wer garantiert dann, dass nicht ein solcher Zeilen-Fehler bereits beim Auszählen erfolgte? BSW und BD lagen ja auf den Wahlzetteln eng beieinander. Nehmen wir an, bei den rund 2,5 Millionen BSW-Wählern wäre bereits beim Auszählen jeder 900ste Stimmzettel falsch abgelesen worden, dann entspräche dies etwa 2700 Stimmen. Damit wären wir bereits bei über 9000 Stimmen wahrscheinlich falsch zugeordnet. Dies ist natürlich vorerst nur eine Hypothese, die nur durch eine Überprüfung der Stimmzettel bestätigt oder widerlegt werden kann. Sie ist aber kein Extremszenario, sondern entspricht der aus der Europawahl abgeleiteten Fehlerhäufigkeit beim Zeilenfehler (Vertauschen von BSW-Stimmen bei Eintragung in Tabelle).
Drittens gab es etwa 285 000 ungültige Zweitstimmen. Das BSW konnte man fast ausschließlich nur über die Zweitstimme wählen, da wir größtenteils auf Direktkandidaten verzichtet haben. In einigen Wahllokalen herrschte bei den über 600 000 ehrenamtlichen Helfern Unklarheit darüber, wie ein Stimmzettel nur mit Zweitstimme zu werten sei (dies waren gültige Stimmzettel). Hinzu kommen Wahlzettel, auf denen Wähler die Erststimme auf der linken Seite des Wahlzettels durchstrichen und das BSW bei der Zweitstimme auf der rechten Seite des Wahlzettels ankreuzten. In einigen Wahllokalen wurde dies als BSW-Stimme gewertet, da der Wählerwille klar erkennbar war. In anderen Fällen wurden derartige Stimmen als ungültig gewertet. Es ist daher keinesfalls kühn anzunehmen, dass in 285 000 ungültigen Stimmen mehrere tausend Stimmen des BSW schlummern (fünf Prozent der ungültigen Stimmen würden etwa 14 250 Stimmen entsprechen, aber selbst ein Drittel davon entsprächen noch etwa 4750 Stimmen). Wenn von ein paar tausend ungültigen BSW-Stimmen nur ein Bruchteil zu Unrecht als ungültig bewertet wurde, könnten hier weitere Stimmen lagern. Ein statistisches Indiz wäre ein unterdurchschnittliches Wahlergebnis des BSW in einem Wahllokal und eine überdurchschnittliche Anzahl an ungültigen Stimmen.
Viertens könnten sich unter den Briefwählern Anomalien befinden. Dazu zählen auch die Auslandsdeutschen, die erhebliche Probleme hatten ihre Stimme rechtzeitig abzugeben.
Der Fall Berlin Marzahn-Hellerdorf - unentdeckte 8000 Stimmen für das BSW?
Es gab zudem noch erhebliche Wahlfehler, die in Einzelfällen dokumentiert sind. In einem Bremer Wahllokal wurde älteren BSW-Wählern, die das BSW auf dem Stimmzettel nicht fanden und bei Wahlhelfern nachfragten, mitgeteilt, das BSW habe vermutlich nicht genug Unterschriften gesammelt und sei daher nicht vertreten.
Wie viel unentdeckte Fehlerquellen in den Daten schlummern, verdeutlicht die Nachzählung von 12 Berliner Wahlbezirken in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Hier wurden von uns keinerlei statistischen Indizien für Fehlerquellen entdeckt. Doch die Nachzählung ergab zwei Stimmen mehr für das BSW. Hochgerechnet auf alle Wahlbezirke wären dies etwa 15 000 Stimmen. Das BSW schnitt hier mit 8,6 Prozent leicht überdurchschnittlich ab. Legt man stattdessen nur unseren Bundesschnitt von knapp fünf Prozent an, landet man immerhin noch bei etwa 8000 Stimmen.
BSW hat Fünf-Prozent-Hürde wahrscheinlich geknackt
Wenn man nur die weiteren Fehlerquellen berücksichtigt, ist es seriös anzunehmen, dass sich die Lücke des BSW zur 5 Prozent Hürde erheblich verringert oder vollständig schließt. Denn 4000 Stimmen dürften nur anhand der beobachteten extremen Anomalien und Meldefehler in einem Bruchteil der Datensätze bereits sicher sein und 6500 Stimmen entsprächen einer konservativen Hochrechnung.
Doch bei der Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses am 14. März dürften aus den geschilderten Gründen nur ein Bruchteil der Fehler behoben werden. Denn uns standen nicht die nötigen Daten zur Verfügung, nicht alle Wahlkreisleiter sind gleichermaßen gewissenhaft und eine flächendeckende Überprüfung fand nicht statt.
Die Bundeswahlleiterin und die Landeswahlleiter sehen ihre Aufgabe nur darin, Meldefehler zu bereinigen und dafür Sorge zu tragen, dass die Addition am Ende stimmt. Ihr liegen die Datensätze der Wahllokale nicht vor. Die Bundeswahlleiterin verfügt nur über die aggregierten Datensätze, die ihr von den Landeswahlleitern übermittelt werden. Und diese stellen die Daten in etlichen Fällen nicht zur Verfügung. Die Prüfungen können nur von den Kreiswahlleitern durchgeführt werden.
Doch die Kreiswahlausschüsse tagen sehr zeitnah nach der Wahl. Da sich aber einige größere Bundesländer weigern, Daten der Wahllokale bis zur Verkündung des tatsächlichen Wahlergebnisses zentral zur Verfügung zu stellen bzw. über keine einheitlichen Datenbanken verfügen, kann eine gründliche Wahlprüfung, die alle Restzweifel beseitigt, bis zur Verkündung des tatsächlichen, amtlichen Wahlergebnisses gar nicht erfolgen. Mit anderen Worten: Das tatsächliche amtliche Wahlergebnis enthält weiter enorme Fehlerquellen, die nicht geprüft wurden. Bei der Europawahl betraf dies alleine ein Drittel der Stimmen bzw. 1600 Stimmen in einer einzigen Fehlerkategorie, die wahrscheinlich weiter falsch zugeordnet waren.
Doch ist das tatsächliche Wahlergebnis erst einmal verkündet, bleibt nur noch die Wahlanfechtung beim Deutschen Bundestag, der sich unbegrenzt Zeit lassen kann und Richter in eigener Sache ist. Hiernach steht der Weg vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe offen. Das Gericht muss dann allerdings eine teilweise Überprüfung des Wahlergebnisses mit dem Bestandsschutz des Bundestages abwägen. Je länger ein Verfahren dauert, desto größer die Hürde die Mehrheiten anzutasten. Ein solches Wahlrecht ist einer Demokratie nicht würdig. Es braucht mehr Schutzrechte bei sehr knappen Wahlergebnissen.
Extreme Wahlfehler bei den Auslandsdeutschen
Etwa 213 000 der drei bis vier Millionen Auslandsdeutschen sind ins Wahlregister eingetragen (bei etlichen scheiterte die Eintragung an bürokratischen Hürden), um per Briefwahl an der Bundestagswahl teilzunehmen. Doch in zahlreichen Fällen scheiterte die Wahlteilnahme an Behördenversagen und langen Postlaufzeiten. Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Prof. Hans-Jürgen Papier, bezeichnete die Wahlfehler bei den Auslandsdeutschen verfassungsrechtlich als „nicht unproblematisch“. Entscheidend sei die Mandatsrelevanz bzw. wie knapp es am Ende für das BSW tatsächlich ausging. Ginge es etwa noch um 3400 Stimmen, die dem BSW fehlten, wären das bei einer ähnlich hohen Wahlbeteiligung von etwa 80 Prozent wie im Inland zwei Prozent der Auslandswähler. Dann hätte das BSW sieben Prozent unter Auslandswählern erzielen müssen, um in den Bundestag einzuziehen (5 Prozent sowie die fehlende Lücke von zwei Prozent). Wie viele Auslandsdeutsche am Wahlakt gehindert wurden und wie viele Stimmen des BSW sich darunter befinden ist nicht bekannt. Gemeinhin wird aber angenommen, dass Auslandswähler stärker oppositionell wählen.
Einige Rechtswissenschaftler, darunter Sophie Schönberger, die sich immer wieder kritisch zum BSW zitieren lässt, behaupten dies sei unerheblich, da die Probleme bei der Auslandswahl nun einmal der 60-Tage-Frist in Art. 39 des Grundgesetzes anzulasten sei. Diese sieht vor, dass Neuwahlen nach der Auflösung des Bundestages innerhalb von 60 Tagen stattzufinden haben. Diese Bestimmung aus der Kaiserzeit sollte die Macht des Monarchen einschränken, nach Belieben ohne Parlament zu walten. Doch wie eine Recherche der ARD kürzlich herausfand, waren die Probleme bei der rechtzeitigen Zustellung von Wahlunterlagen in etlichen Fällen nicht der 60-Tage-Frist, sondern schlicht Behördenversagen anzulasten. In Hamburg wurden die Unterlagen erst sehr spät verschickt. In Saarbrücken wurde ein Postzusteller genutzt, der die Unterlagen für eine erhebliche Dauer in Salzburg einlagerte. Und der Ex-Präsident des Verfassungsgerichtes Papier hat darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber genug Möglichkeiten hatte das Wahlrecht so anzupassen, dass auch Auslandsdeutsche ihr Wahlrecht, etwa in Botschaften, wahrnehmen können. Denn das Wahlrecht steht jedem wahlberechtigten Deutschen zu und dies muss im Zeitalter der Internationalisierung auch für Auslandsdeutsche gelten, die sich die Mühe machen in das Wahlregister einzutragen und somit ihre Verbundenheit zu Deutschland und ihr Interesse an der Gemeinschaft dokumentieren. Ich verfüge etwa seit Geburt über eine deutsch-italienische Doppelstaatsbürgerschaft und kann ohne Probleme an wichtigen Wahlakten in Italien in Deutschland teilnehmen.
Da die Stimmen der Auslandsdeutschen nicht getrennt erhoben werden und das BSW das erste Mal bei einer Bundestagswahl antrat, haben wir keine Vergleichsdaten. Aber ein leicht überproportionales Ergebnis unter den Auslandsdeutschen oder die komplette Schließung der Lücke zur 5-Prozent-Hürde durch potenzielle Fehlerquellen in den Wahldaten sind aufgrund der geschilderten Beobachtungen keine Extremszenarien.
Sofortmaßnahmen für zuverlässige Wahldaten
Wir brauchen daher unabhängig vom BSW eine Überprüfung der Wahlzählung – mindestens im Hinblick auf alle Wahllokale mit Anomalien zu Lasten des BSW.
Zudem benötigen wir vier schnelle Sofortmaßnahmen, um das Wahlrecht zu reformieren:
Erstens: Wahldaten sind ein öffentliches Gut und kein Würfelspiel. Die Daten der Wahllokale und Wahlkreise müssen innerhalb von spätestens 48 Stunden in jedem Bundesland in einem einheitlichen Format zur Verfügung gestellt und bei der Bundeswahlleitung abrufbar sein. Meldefehler können dann immer noch korrigiert und statistische Anomalien erkannt werden.
Zweitens: Bei knappen Wahlergebnissen, die in einem Intervall von 0,1 Prozent liegen, sollte ein Anspruch auf systematische Nachprüfungen ausgelöst werden. Das BSW lag nur 0,028 Prozent von der Fünf-Prozent-Hürde entfernt.
Drittens: das Wahlrecht sollte so reformiert werden, dass eine rechtzeitige Auslandswahl – zum Beispiel in Botschaften – ermöglicht wird. Dazu müssen ggf. Auslandswahlbezirke geschaffen werden oder andere geeignete Maßnahmen wie in zahlreichen EU-Ländern umgesetzt wurden.
Viertens: der Wahlausschuss des Bundestages sollte innerhalb enger gefassten zeitlichen Fristen über Wahlanfechtungen entscheiden oder es muss ein direkterer Weg zur Wahlanfechtung zum Verfassungsgericht ermöglicht werden. Denn der Bundestag ist Richter in eigener Sache.
Das BSW wird in jedem Fall auch die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung oder der nachträglichen Anfechtung des Wahlergebnisses juristisch prüfen, sollten endgültige Wahlergebnisse verkündet werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dem tatsächlichen Wahlergebnis entsprechen. Dies dient dem Schutz des Vertrauens in den Wahlprozess.