Was Wagenknechts Kandidaten wirklich über Russland denken

Doppelinterview mit Michael von der Schulenburg mit DER SPIEGEL

23.01.2024

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Der Ex-Abgeordnete Fabio De Masi ist dem neuen Bündnis Sahra Wagenknecht(BSW) beigetreten. Am kommenden Samstag soll er auf dem ersten Parteitag des BSW zum Spitzenkandidat für die Europawahl gekürt werden. Auf Platz drei soll der Ex-Diplomat Michael von der Schulenburg antreten. Der SPIEGEL hat beide in der Parlamentarischen Gesellschaft im Bundestag zum Interview getroffen, um mit ihnen über Außenpolitik zu sprechen. Es wurde schnell kontrovers.

SPIEGEL: Ihre Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht, lässt kein gutes Haar an der Europäischen Union. Sind Sie also für den Dexit, den Austritt Deutschlands aus der EU?

De Masi: Nein, das ist doch Unfug. Die EU sollte sich dort engagieren, wo sie Dinge besser kann. Zum Beispiel sollte sie Steuerdumping von internationalen Konzernen unterbinden und die Marktmacht von US-Big-Tech-Monopolen beschränken.

SPIEGEL: Sie wünschen sich also mehr EU?

De Masi: Weniger ist manchmal mehr. Wenn Kommunen Tariflöhne bei öffentlichen Aufträgen verlangen, sollte die EU da nicht reingrätschen.

Schulenburg: Die EU ist und bleibt wichtig. Aber es muss neu geklärt werden, was auf EU-Ebene entschieden werden sollte und was die Nationalstaaten regeln sollten. Entscheidungen sollten immer so nah wie möglich bei den Bürgern getroffen werden. Europas Vielfalt ist doch ein riesiger Vorteil für uns.

SPIEGEL: Gut, also soll Deutschland in der EU bleiben. Wollen Sie denn raus aus der Nato?

Schulenburg: Ich bin Nato-kritisch. Die Nato ist heute kein Verteidigungsbündnis mehr, sondern hat sich zu einem weltweiten Interventionsbündnis entwickelt. Damit verstößt sie meines Erachtens gegen die Uno-Charta. Für die Nato als Verteidigungsbündnis war das nicht der Fall. Auch haben Nato-Einsätze zu hohen zivilen Opfern geführt, die selbst darüber hinausgehen, was wir grässlichen Terrororganisationen wie dem IS vorwerfen.

SPIEGEL: Die Nato ist Teil einer stabilen Sicherheitsarchitektur. Wir halten fest: Ihnen ist der »Islamische Staat« lieber als die Nato. Also wollen Sie raus aus der Nato?

Schulenburg: Nein, Sie verdrehen meine Worte. Laut dem US-Kongress haben allein die USA seit Ende des Kalten Krieges 251-mal in anderen Ländern militärisch interveniert. Die Brown University veröffentlichte im letzten Jahr eine Studie über die Kosten des Krieges gegen den Terror und kam zu dem Ergebnis, dass dieser 4,5 Millionen Menschen direkt und indirekt das Leben gekostet hat.

SPIEGEL: Sie haben gerade die Nato mit einer Terrororganisation verglichen. Trotzdem soll Deutschland in der Nato bleiben? Verzeihung, aber das verstehen wir nicht.

De Masi: China hat mit Frankreich eine diplomatische Initiative ergriffen. Dort wird Russland gesagt, dass das Territorium der Ukraine zu respektieren ist. Und wir sollen aufhören, militärische Machtblöcke auszudehnen. Das ist der Weg.

 

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De Masi: Es gab im März 2022 Verhandlungen in Istanbul. Dort ging es etwa um die Frage, ob die Ukraine der Nato beitritt. Eine Friedenslösung war laut ukrainischen Diplomaten sehr nah. Doch die Briten rieten der Ukraine ab, dem Friedensplan zuzustimmen. Die Leichenberge sind nun noch höher geworden und die Russen in der Vorderhand.

Schulenburg: Es gibt eine öffentliche Aussage des ukrainischen Unterhändlers, Botschafter Olexander Chalyi, in Genf. Darin betont er wiederholt, wie nahe sie damals an einem erfolgreichen Abschluss des Zehn-Punkte-Friedensplans waren. Dieser Plan war eine Glanzleistung ukrainischer Diplomatie und einmalig in der jüngeren Geschichte von Friedensprozessen.

SPIEGEL: Sie unterschlagen in Ihrem Narrativ die Kriegsverbrechen in Butscha und Mariupol, die laut Aussagen von Teilnehmern der hauptsächliche Grund waren, dass die Verhandlungen geplatzt sind.

Schulenburg: Dort sind schreckliche Dinge passiert. Das kann jedoch nicht der Grund sein, Friedensverhandlungen abzubrechen. Kriege verrohen und Verhandlungen sind ja gerade deshalb so wichtig, um solche Gräueltaten zu beenden.

SPIEGEL: Putin könnte sie sofort beenden, indem er sich aus der Ukraine zurückzieht. Immerhin gestehen Sie zu, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelt. Ist für Ihre neue Partei ein Ziel, die Bundeswehr ausreichend auszustatten?

De Masi: Natürlich brauchen wir eine taugliche Bundeswehr. Für die Landesverteidigung im Rahmen der Uno-Charta, nicht für Militärinterventionen.

SPIEGEL: Also war es richtig, dass es jetzt mehr Geld für die Bundeswehr gibt?

De Masi: Nein. Schon vor der »Zeitenwende«, die Kanzler Scholz ankündigte, hatten wir einen Militäretat, der vergleichbar ist mit der Atommacht Frankreichs. Aber das Geld verschwand im Beschaffungs- und Beraterfilz. Frau von der Leyen wurde dafür gar zur EU-Kommissionspräsidentin befördert.

SPIEGEL: Das sehen viele Nato-Mitglieder anders, die sich mehr Einsatz Deutschlands wünschen. Unter Willy Brandt – den Sie in Ihrem Wahlprogramm als Vorbild nennen – lag die Quote der Verteidigungsausgaben am BIP zwischen drei und vier Prozent, heute versuchen wir an die von der Nato vorgesehen zwei Prozent zu kommen.

De Masi: Wir stecken in der Rezession. Die Ampelkoalition kürzt bei der Forschung. Es fehlt an Wohnungsbau, die Mieten fressen die Reallöhne auf, zugleich werden die Verbrauchersteuern erhöht. Bei der Rüstung spielt Geld aber plötzlich keine Rolle. Kein Wunder, dass die AfD so stark ist.

SPIEGEL: Die Bundesregierung prüft gerade, Panzermunition an Israel zu liefern. Ist das in Ihren Augen richtig?

De Masi: Nein. Zwei Millionen Menschen sind in Gaza auf der Flucht. Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung, aber dies ist keine verhältnismäßige militärische Reaktion mehr.

Schulenburg: Eine Aufnahme von verwundeten Palästinensern zur Behandlung in der Europäischen Union wäre jetzt angebracht. Das schreibt das humanitäre Völkerrecht auch so vor.

SPIEGEL: Wie passt das zu Ihrem migrationskritischen Kurs? Es könnten Hamas-Unterstützer unter den Verwundeten sein.

De Masi: Verletzte Kinder sind keine Hamas-Kämpfer. Wir respektieren das Recht auf Asyl und streben Verfahren in Drittstaaten an, um Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer zu ersparen. Das Asylrecht ist jedoch ungeeignet, um sehr vielen Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu verschaffen. Hier müssen wir mehr in den Herkunftsstaaten tun, auch weil unsere Kommunen und Schulen überfordert sind. Die Ärmsten schaffen es zudem gar nicht zu uns. Die Verringerung von Zuwanderung schließt begrenzte humanitäre Kontingente nicht aus.

SPIEGEL: Wir haben noch nicht verstanden, ob das BSW Auslandseinsätze der Bundeswehr nun grundsätzlich ablehnt oder nicht.

De Masi: Wir lehnen völkerrechtswidrige Militäreinsätze ab. Die Aufgabe der Bundeswehr ist die Landesverteidigung, nicht die Führung von Interventionskriegen.

SPIEGEL: Im Gegensatz zur Linken sagen Sie nun: Militäreinsätze sind möglich.

Schulenburg: Nein, wir wollen mehr Diplomatie. Die Uno-Charta kennt die Autorisierung von Militäreinsätzen nur in engen Grenzen und schließt nationale Eigenmächtigkeiten aus.

SPIEGEL: Herr De Masi, Sie wurden als Aufklärer von Finanzskandalen in der Öffentlichkeit bekannt, haben dann vor längerer Zeit die Linke verlassen. Jetzt sind Sie bei der neuen Partei von Frau Wagenknecht. Riskieren Sie nicht Ihren guten Ruf?

De Masi: Nein, warum? Meine Entscheidung, mich wieder politisch zu engagieren, hatte mit der fatalen Politik der Ampel und auch mit engen Meinungskorridoren zu tun. Erst wurde mir wegen meiner Aufklärung krimineller Cum-ex-Geschäfte oder des Wirecard-Skandals auf die Schulter geklopft. Wenn ich mich jetzt wieder engagiere, werde ich plötzlich als Putin-Versteher abgestempelt, obwohl ich im Alleingang Oligarchennetzwerke in Deutschland aufdeckte. CDU bis Grüne nehmen Konzernspenden. Uns wurde der Vorwurf gemacht, wir würden aus Russland bezahlt, weil es 75 Euro von einer Person mit einer russischen IP-Adresse gab. Das ist absurd.

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