Die Regierung vernichtet Akten – was hat der Bundeskanzler zu verbergen?

Kolumne Berliner Zeitung

03.11.2023
Imago/Bernd Elmentaler

Der Beitrag erschien in der Berliner Zeitung

In den USA marschierte kürzlich das FBI in die privaten Gemächer von Ex-US-Präsident Donald Trump ein, um staatliche Akten zu beschlagnahmen, die dieser in sein Anwesen verbracht hatte. In Deutschland, dem Land der Gründlichkeit und Bürokratie, wurden hingegen kürzlich zwei Laptops des Untersuchungsausschusses der Hamburger Bürgerschaft zur Warburg-Affäre mit 700.000 E-Mails, darunter die Kommunikation der Büroleiterin von Olaf Scholz, aus dem Tresor des Parlaments entwendet. Entwendet hat sie ein SPD-Mann, dem laut dem Nachrichtenmagazin Stern zuvor der Zugang zum Tresor entzogen wurde, nachdem bekannt geworden war, dass der Hamburger Verfassungsschutz vor ihm gewarnt hatte.

Die E-Mails waren von der Kölner Cum-Ex-Ermittlerin, Anne Brorhilker, bei Razzien beschlagnahmt worden. Sie wurden dem Hamburger Untersuchungsausschuss erst nach einem Machtkampf mit dem grünen Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Benjamin Limbach, übermittelt. Dieser hatte zuvor versucht, Staatsanwältin Brorhilker zu entmachten. Sie sah Hinweise auf eine aktive Einflussnahme von Olaf Scholz auf das Steuerverfahren der Warburg-Bank, durfte die Sachverhalte aufgrund der „gehobenen Stellung“ jedoch nicht ausermitteln. In Deutschland sind Staatsanwälte politisch weisungsgebunden. Auch in Hamburg, wo die Laptops entwendet wurden, untersteht die Staatsanwaltschaft der grünen Justizsenatorin Anna Gallina.

In Deutschland lagern Bundeskanzler sogar Akten zuweilen im Hobbykeller und verwerten sie kommerziell in Büchern oder gewähren lediglich gewogenen Hofschreibern Zugang. Doch ein Amt ist geliehene Macht. Die Kommunikation von Politikern in Staatsämtern, die sie in Ausübung ihres Amtes führen, ist kein Privateigentum, sondern Eigentum des Staates.

Wie Helmut Kohl staatliche Akten privatisierte

Altkanzler Helmut Kohl ließ Schubkarren an Akten – etwa 400 Ordner – nach seiner Abwahl 1998 aus dem Kanzleramt holen und ins Archiv der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung bringen. Dabei wäre er gesetzlich verpflichtet gewesen, die Akten dem Bundesarchiv anzubieten. Diese sogenannten Handakten forderte Kohl jedoch 2010 von der Konrad-Adenauer-Stiftung wieder zurück, vorgeblich, um seine Memoiren zu verfassen. Seitdem setzen die Unterlagen der Zeitgeschichte Staub im Keller in Oggersheim an – darunter per Hand redigierte Entwürfe von Kanzlerreden sowie Briefwechsel mit Franz Josef Strauß. Es sollen nunmehr die Originale von 70 Dokumenten fehlen, die Historiker des Instituts für Zeitgeschichte noch zu Kohls Lebzeiten im Auftrag des Auswärtigen Amtes kopiert hatten. Darunter ein Vermerk über ein historisches Treffen Kohls mit Frankreichs damaligem Präsidenten François Mitterrand. Auch wenn Kohl zu Lebzeiten überzeugt war, er hätte persönlich die Berliner Mauer eingerissen, es geht um die Geschichte Deutschlands. Sie gehört ihm nicht.

Der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, schrieb daher in beschämender Höflichkeit an die Kohl-Witwe Maike Kohl-Richter, die diebisch über den Nachlass „des Dicken“ wacht. In diesem Schreiben bot Hollmann seine Unterstützung bei der Regelung des schriftlichen Nachlasses an und erklärte, er wäre der Witwe „verbunden“, wenn sie staatliches Schriftgut an das Bundesarchiv weiterleiten würde. Hollmann beklagt immer wieder öffentlich die Weigerung der Bundesregierung, Akten dem Bundesarchiv zu übergeben. Doch es passiert nichts. Das Bundesarchiv untersteht derzeit wiederum der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth (Die Grünen). Sie ist jedoch in dieser Funktion Staatsministerin im Bundeskanzleramt. Die Regierung kontrolliert sich also im Zweifel selbst, wenn es um das Transparenzgebot geht.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in einem Urteil zu einer Klage der Journalistin Gaby Weber gegen die Bundesregierung, dass die Kohl-Akten nicht den Charakter amtlicher Unterlagen einbüßen, wenn sie in den privaten Bereich übergehen. Sie seien dem Staat weiterhin rechtlich zugeordnet und unterlägen grundsätzlich seiner Verfügung und Verantwortung, auch wenn der Zugriff erschwert sei. Gleichwohl verwarf das Verwaltungsgericht Berlin jedoch eine Klage gegen das Bundeskanzleramt, die Akten von Kohl wiederzubeschaffen. Ein Anspruch auf Wiederbeschaffung aus dem Informationsfreiheitsgesetz bestehe nur, wenn die Löschung von Daten beziehungsweise die Verbringung von Akten zeitlich nach einer Informationsfreiheitsanfrage erfolgt sei. Die Ansprüche aus dem Informationsfreiheitsgesetz, dem Bundesarchivgesetz und den Pressegesetzen werden damit unterlaufen. Der Anspruch auf Transparenz ist aber zwingende Voraussetzung, damit wir Regierungschefs, Ministern, Staatssekretären und Beamten zeitlich beschränkte Macht verleihen.

Die Bundesregierung löscht Beweismaterial

Eine kurze unvollständige Aufzählung weiterer Lösch- und Verschleierungstaktiken deutscher Politiker: Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) besiegelte milliardenschwere Impfstoffdeals mit Pfizer per SMS und löschte diese. Der einstige Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) kommunizierte in der Maut-Affäre per Messengerdiensten. Der Maut-Untersuchungssauschuss des Bundestages erhielt keinen Zugriff auf diese Kommunikation. Der Kalender von Bundeskanzlerin Angelas Merkel (CDU) im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges wurde gelöscht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) rückt Unterlagen zu den Maskendeals von Jens Spahn (CDU) nicht heraus.

Eine Finanzbeamtin der rot-roten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern verbrannte Steuerunterlagen zur Klimastiftung, die zur Umgehung von US-amerikanischen Sanktionen gegen die Nord-Stream-Pipeline gegründet wurde, im Kamin. Und der rot-grüne Senat in Hamburg kann vier Jahre später rekonstruieren, dass es einen Kontakt zu Olaf Scholz beziehungsweise dessen Umfeld gab, um diesen 2019 zur Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage nach Treffen mit dem Warburg-Gesellschafter Olearius zu fragen. Der Hamburger Senat kann auch noch nach vier Jahren bestätigen, dass Scholz nicht fristgerecht auf diese Anfrage geantwortet habe, verfügt aber angeblich über keine Aufzeichnungen mehr zur Kommunikation mit dem Finanzministerium beziehungsweise Scholz.

Die Causa von Rintelen

Der damalige Staatssekretär von Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, rief mich während des Wirecard-Untersuchungssauschusses kurz vor Mitternacht an, nachdem ich den Bundeskanzler vor den Verbindungen des Cybersecurity-Dienstleisters der Bundesregierung zum flüchtigen Wirecard-Manager Jan Marsalek und dessen Fluchthelfern gewarnt hatte. Denn der damalige Eigentümer der Firma Virtual Solution verschlüsselte die E-Mails von Ministern, Staatssekretären und wichtigen Bundesbehörden. Sein Geld hatte von Rintelen mit einem Kreml-nahen Oligarchen bei der Vermittlung von Gasdeals mit Baden-Württemberg gemacht. Schmidt brachte in einem Telefonat die Sorge von Scholz über die dubiosen Kontakte des Investors zu Marsalek und dessen Fluchthelfern zum Ausdruck, verschwieg mir aber seine eigenen, intensiven Kontakte zu von Rintelen. Ich stellte Schmidt Unterlagen aus Österreich zur Verfügung, aus denen diese Verbindungen des Investors zu Marsalek hervorgingen, da ich das Staatswohl und die Cybersicherheit der Bundesrepublik bedroht sah.

Nach der letzten Bundestagswahl und dem intensiven Wirecard-Untersuchungssauschuss, den ich mit oft nur drei Stunden Schlaf bestritt, widmete ich mich dann in Ruhe alten Unterlagen. Dabei fiel mir ein Nebensatz in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu von Rintelen auf, die ich über den Abgeordneten Klaus Ernst eingereicht hatte. Daraus ging hervor, dass es regelmäßige Kontakte von Staatssekretären zu von Rintelen gegeben haben muss.

Daraufhin bat ich den Bundestagsabgeordneten Victor Perli, die genauen Kontakte bei der Bundesregierung abzufragen, da ich dem Bundestag nicht mehr angehörte. Denn zusätzlich war mir Kommunikation zugespielt worden, aus der hervorging, wie vertraut von Rintelen mit Marsaleks Fluchthelfern kommuniziert hatte und wie Marsalek und sein Umfeld in geschäftliche Anbahnungen mit von Rintelen eingebunden waren. Auch ein ehemaliger österreichischer Diplomat, dem eine Rolle dabei zugeschrieben wurde, klassifizierte Dokumente zum Skripal-Skandal (der Anschlag auf einen ehemaligen russischen Agenten in Großbritannien mit einem Nervenkampfstoff) an Marsalek gespielt zu haben, tauchte in der Kommunikation auf.

Daraufhin offenbarte die Bundesregierung im November 2021 (nach der Bundestagswahl) gegenüber Victor Perli die genauen Kommunikationsdaten des aktuellen Kanzleramtsministers Wolfgang Schmidt mit eben jenem früheren Eigentümer der mittlerweile verkauften Cybersecurityfirma in den Diensten der Bundesregierung. Als dann im März 2022 die Herausgabe der E-Mails per Informationsfreiheitsgesetz (IFG) von mir und anderen begehrt wurde, waren die E-Mails angeblich mitten in der Legislaturperiode gelöscht.

Die Löschpraxis scheint auch von daher so schamlos und verbreitet, weil selbst die Opposition im Deutschen Bundestag nicht genug dagegen unternimmt und sie nicht vor höchsten Gerichten klagt. Dies könnte auch daran liegen, dass man selbst kein Interesse an Transparenz beim Regierungswechsel hat.

Die Rechtslage – eine Ohrfeige der Bundestagsjuristen

Wichtig ist dabei zu verstehen: Politiker haben auch ohne rechtswidrige Löschungen genug geschützte Räume und auch Möglichkeiten, ihr Handeln zu verschleiern. Durch mündliche Kommunikation, die nicht verschriftlicht wird oder aus Gründen des Staatswohls, das immer wieder vorgeschoben wird, um Auskünfte nicht oder nur unter strafbewährtem Geheimschutz zu erteilen. Wer jedoch verstehen will, weshalb die skandalöse Praxis in Deutschland ohne Folgen bleibt, muss zunächst die Rechtslage verstehen.

Ob es sich im Zeitalter des Internets um SMS, Telefonate oder Ähnliches handelt, ist für die Aktenrelevanz der Regierungskommunikation unerheblich. Die Bundesregierung behauptet immer, es sei legitim, SMS und Inhalte von Telefonaten und Ähnlichem aufgrund des damit verbundenen Aufwands nicht zu verakten. Dies ist nicht der Fall. So schreiben die Bundestagsjuristen in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das der Bundestagsabgeordnete Christian Leye zum von-Rintelen-Fall einholte:

„Zu den aktenrelevanten Unterlagen zählen alle entscheidungserheblichen Informationen, unabhängig davon, auf welchem Weg sie die Behörde erreichen. Relevante Informationen sind nach dem Gebot der Schriftlichkeit (…) zu verschriftlichen (z. B. Telefonate oder SMS).“

Ein Wechsel der Legislaturperiode, wie ihn die Bundesregierung regelmäßig anführt, um Löschungen zu rechtfertigen, ist daher absolut unerheblich. Gerade im elektronischen Zeitalter, wo es nur Speicherplatz benötigt. Im Fall der von-Rintelen-Mails war das aber nicht mal der Fall, die lagen noch in der aktuellen Legislaturperiode vor, es gab dazu eine parlamentarische Anfrage und somit ein dokumentiertes Auskunftsinteresse mit einer Drucksachennummer. Konkret schreiben die Bundestagsjuristen:

„Dies (Anmerkung: die Pflicht zur Aufbewahrung) gilt grundsätzlich vom Beginn bis zum Ende eines Verwaltungsverfahrens, sodass das Ende einer Legislaturperiode keinen Einfluss auf die Aktenführung haben dürfte, zumal Bundesregierung und -verwaltung, anders als der Deutsche Bundestag, nicht dem Grundsatz der sachlichen Diskontinuität unterliegen.“

Die Bundesregierung behauptete bisher immer auch, man habe keine Pflicht zur Wiederherstellung beziehungsweise Wiederbeschaffung einmal gelöschter Kommunikation bei Informationsfreiheitsanfragen von Bürgern. Auch das stimmt nicht. Wurden Daten nach der Anfrage gelöscht, besteht gegebenenfalls eine solche Pflicht. Die Bundestagsjuristen im Wortlaut:

„Bedeutung kann ein Verstoß jedoch im Rahmen eines Anspruchs auf Informationszugang (…) erlangen. Wird eine Aufzeichnung nur zu dem Zweck, den Informationszugangsanspruch zu vereiteln, regelwidrig gelöscht oder entfernt, so komme ein Anspruch auf Wiederbeschaffung der Information in Betracht. (…) Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn die Informationen nicht schon vor Antragstellung gelöscht wurden.“ 

Wer haftet für rechtswidrige Löschungen?

Die spannende Frage ist nun, wer für illegale Löschungen belangt werden kann? Die Rechtslage dazu ist leider sehr unbefriedigend. Gemäß der Bundestagsjuristen kommt dafür wohl nur das Bauernopfer – der aktenführende Sachbearbeiter – infrage. Was aber, wenn der Dienstherr selbst ein Interesse an der Löschung hat und nicht sanktioniert beziehungsweise politisch weisungsgebundene Staatsanwälte derartige Verstöße gegen Beamtenrecht dulden?

Die Bundestagsjuristen führen hierzu aus, dass „dem Bundesministerium des Innern innerhalb der Bundesregierung die Zuständigkeit“ obliege, „wenn nicht die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Justiz (…) betroffen ist. Diese Zuständigkeit beinhaltet jedoch keine Verantwortlichkeit für die Einhaltung der oben dargelegten Verpflichtungen zu ordnungsgemäßer Aktenführung.“ 

Weiter führen die Juristen aus, dass es sich bei der sogenannten gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien sowie der Registraturrichtlinie um „verwaltungsinternes Binnenrecht“ handle. Verstöße dagegen seien „grundsätzlich nicht justiziabel“. Verantwortlich für die ordnungsgemäße Aktenführung sei grundsätzlich der „jeweilige Bearbeiter“.

Mein Anwalt, Christoph Partsch, der frühere Vertrauensanwalt des Berliner Senats zur Bekämpfung von Korruption, der erfolgreich den Bundesnachrichtendienst auf Offenlegung von Unterlagen zu SS-Führer Adolf Eichmann verklagte, ist jedoch der Überzeugung, dass auch das Strafgesetzbuch Ansatzpunkte für Ermittlungen der Staatsanwaltschaft liefert. So sieht er in der Datenlöschung im Fall von Rintelen einen Verdacht der vollendeten Datenveränderung, der gemäß Paragraf 303a Strafgesetzbuch strafbar wäre. Dort heißt es unter anderem: „Wer rechtswidrig Daten löscht, unterdrückt, unbrauchbar macht oder verändert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Ich habe daher über ihn Strafanzeige und Strafantrag gegen unbekannt wegen Löschungen der von-Rintelen-Mails gestellt und die Berliner Staatsanwaltschaft hat deswegen offenbar Ermittlungen aufgenommen, wie kürzlich die Tageszeitung Die Welt berichtete. Es bleibt ein steiniger Weg, die Mächtigen zu kontrollieren. Aber es geht um mehr als ein paar Zettel Papier. Es geht darum, wem die Geschichte in Deutschland gehört und wer der Eigentümer der Regierungsmacht ist, die wir den Regierenden nur geliehen haben.