Aufstehen: Warum der Handelskammer-Vize dem neuen Linksbündnis beitritt

Torsten Teichert und Fabio De Masi im Hamburger Abendblatt-Interview

06.09.2018

Hamburger Abendblatt: Warum der Handelskammer-Vize dem neuen Linksbündnis beitritt

Torsten Teichert unterstützt Bewegung von Sahra Wagenknecht. Er und der Linken-Abgeordnete Fabio De Masi erklären, was sie treibt. Von Jens Meyer-Wellmann und Matthias Iken

So etwas hat es wohl nicht gegeben: Mit SPD-Mann Torsten Teichert tritt ein Vizepräses der Handelskammer Hamburg einem Linksbündnis bei – nämlich der Bewegung „Aufstehen“, die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht zusammen mit einigen Vertretern aus SPD und Grünen ins Leben gerufen hat.

Teichert, früher persönlicher Referent von SPD-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und Chef der Filmförderung, und der Hamburger Linken-Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi, langjähriger Wagenknecht-Vertrauter, erklären im Abendblatt-Interview, was sie zur Teilnahme bewogen hat und was sie von „Aufstehen“ erwarten.

Herr Teichert, ist es nicht eine Art Verrat an Ihrer ums Überleben kämpfenden SPD, dass sie gemeinsame Sache mit Frau Wagenknecht machen?

Torsten Teichert: Es geht nicht um Verrat. Es geht um die Frage, ob wir irgendwann wieder ein linkes Bündnis in Deutschland als realistische Option hinbekommen – und einen linken Bundeskanzler oder eine Kanzlerin bekommen. Ob wir eine neue Politik bekommen. Diesen Anstoß will das Bündnis geben. Das Problem der SPD ist, dass auf dem Parteitag nur eine knappe Mehrheit für die Groko war, der Parteivorstand aber trotzdem völlig reformunwillig ist. Das muss sich ändern.

Was fordern Sie konkret?

Teichert: Nehmen Sie mal Olaf Scholz’ Rentenvorschlag. Er möchte, dass die Renten erst nach 2040 weiter sinken. Was ist das für ein Versprechen? Die Renten sind heute schon für viele Menschen so niedrig, dass sie nicht davon leben können. Gucken Sie mal nach Österreich, dort bekommen die Rentner deutlich mehr Geld. Und was macht die SPD? Sie will die Renten weiter senken, aber etwas später. Dabei müssten die Renten dringend steigen. Die SPD muss wieder eine Partei werden, die eine bessere Zukunft für alle Menschen, alte und junge, anstrebt – und nicht den Status Quo einfriert. Wenn Sie das nicht tut, ist es bald vorbei mit ihr.

Sie waren Chef bei Lloyd Fonds und sind Handelskammer-Vizepräses. Wie verträgt sich das eigentlich mit linkem Populismus?

Teichert: Es geht nicht um Populismus, sondern um eine neue Diskussion über Politik. Und was mein Kammer-Engagement angeht: Das ist doch vielleicht ein ganz gutes Gegengewicht. Immerhin sind geschätzte 90 Prozent der deutschen Kammerführungen in CDU und FDP. Im Übrigen steht im Kammergesetz, dass die Kammern Vertretungen der Wirtschaft sein sollen. Zur Wirtschaft gehören alle, nicht nur Unternehmer, sondern auch Arbeitnehmer.

Fabio De Masi: Mir sind Unternehmer lieber, die eine Vermögenssteuer für Pfeffersäcke wollen, als Berufspolitiker, die immer Renten der anderen kürzen.

Was genau will eigentlich „Aufstehen“?

De Masi: Die Themen liegen auf der Straße. Der Frust reicht bis in die Mittelschicht. Das Realeinkommen von 40 Prozent der Beschäftigten ist heute niedriger als Ende der 1990er Jahre. 41 Prozent der neuen Arbeitsverträge sind befristet. Wer traut sich da noch das Leben zu planen, eine Familie zu gründen? Die Parteienlandschaft ändert sich. Die Grünen sind das Rettungsboot von Angela Merkel, die CDU weiß nicht, was sie will, die SPD ist klinisch tot. Und von rechts kommt die AfD. Wenn die auf sozial macht, haben SPD und Linke ein Riesenproblem. Wir haben ein kleines Zeitfenster, danach ist Schicht im Schacht.

Sind der Brite Jeremy Corbyn oder der US-Amerikaner Bernie Sanders für Sie Vorbilder für eine neue Linke?

De Masi: In Frankreich oder den Niederlanden ist die Sozialdemokratie tot, in Großbritannien und den USA haben diese beiden Politiker den Trend gedreht. Das zeigt: Offenbar ist es nicht der Auftrag der Wähler an die Sozialdemokratie, Renten und Löhne zu drücken.

Teichert: Hillary Clinton hat quasi das SPD-Programm abgeschrieben. Und hat gegen Trump verloren.

Sie sind seit Jahrzehnten SPD-Mitglied, Herr Teichert. Was müsste Ihre Partei aus Ihrer Sicht heute anders machen?

Teichert: Sie muss wieder ein Zukunftsversprechen machen. Es gab zwei große Fehler in der jüngeren SPD-Geschichte. Der erste war der Müntefering-Spruch „Opposition ist Mist“. Denn natürlich gehört zu linker Politik auch Opposition gegen bestimmte Verhältnisse. Und das zweite war der Verlust der Zukunftsperspektive. Die SPD begnügt sich heute damit, dass bitte alles bleiben soll, wie es heute ist. Warum sagt man nicht: Wir wollen Renten wie in Österreich, wo sie 40 Prozent höher sind? Oder wir wollen, das überall Tarif gilt und es keine tariflosen Unternehmen gibt – wie in Österreich? Was bitte hindert die SPD daran, Verbesserungen anzustreben?

De Masi: Es geht darum, den Rechten wieder die Lufthoheit über das Internet und die Straße zu nehmen. Auch als Linke haben wir viel zu lange über deren Themen, etwas die Flüchtlingspolitik gestritten – und damit Themen wie Pflegenotstand, Mietwucher oder auch die horrenden Beiträge zur Krankenkasse für Selbstständige verdrängt.

Anders als die Linke, die offene Grenzen für alle fordert, sieht „Aufstehen“ Zuwanderung kritischer. Kommen schon Leute zu Ihnen, die sagen: Ich mache bei Euch mit, weil Ihr gegen Flüchtlinge seid?

De Masi: Die wären an der falschen Adresse. Wir verteidigen das Recht auf Asyl. 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Im Jemen verhungern Kinder. Die schaffen es gar nicht zu uns. Wir müssen Fluchtursachen wie Waffenexporte bekämpfen und auch vor Ort helfen. Offene Grenzen für alle sind doch eine Phantomdebatte.

Für Ihre Linkspartei offenbar nicht. Die fordert per Beschluss offene Grenzen.

De Masi: Wir müssen das Spielfeld wechseln. Auch in der Flüchtlingspolitik entscheidet der soziale Zusammenhalt. Hätte Frau Merkel gesagt, wir investieren wegen der Flüchtlingskrise endlich in die Schulen und ziehen dafür auch Millionäre mit einer Vermögenssteuer heran, dann würde das Land nicht verrohen. Wir brauchen nicht nur einen Aufstand der Anständigen gegen rechten Straßenterror in Chemnitz – wir brauchen auch eine anständige Politik.

Wenn man in Nachbarstaaten schaut, könnte„Aufstehen“ auch bei uns dem bestehenden Parteiensystem den Rest geben, zuerst vielleicht der SPD. Ist das Ihr Ziel?

Teichert: Nein, wir wollen, dass sich SPD. Linke und Grüne bewegen. Und dass es wieder ein Machtoption für linke Politik in Deutschland gibt.

Würden Sie eine neue Partei gründen, um 2021 zur Bundestagswahl anzutreten?

Teichert: Man braucht irgendwann eine Machtoption und da die Zeiten schnelllebig sind, braucht man sie schnell. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten: Entweder eine der drei Parteien stellt jemanden auf, der ähnlich wie Sahra Wagenknecht von den Linken, Simone Lange von der SPD oder Ludger Volmer von den Grünen ist. Oder man macht das anders.

Mit einer eigenen Partei?

Teichert: Notfalls ja.

De Masi: Wir haben 120.000 hoch motivierte Menschen, die etwas ändern wollen. Ich hoffe, dass mindestens eine Partei sagt, die wollen wir haben und sich neu erfindet. Am besten meine.

Hoch motiviert? Die haben alle nur einmal schnell im Netz bei Ihnen geklickt. Das machen die Leute auch bei Katzenvideos.

De Masi: Richtig ist: Es reicht nicht, sich im Fitnessstudio anzumelden, wenn man den Bauch weghaben will. Man muss auch ein paar Hanteln schwingen. Wir haben uns mit Leuten um Bernie Sanders beraten, wie man Menschen für Politik begeistert. Wir haben kluge Mitstreiter, zum Beispiel frühere Autoren der Harald-Schmidt-Show. Ziel ist es, dass wieder über Gerechtigkeit gesprochen wird.

Die SPD ist bei der Bundestagswahl 2017 mit dem Thema Gerechtigkeit nicht sehr weit gekommen. Das könnte auch daran liegen, dass es den Menschen in Deutschland im Schnitt so gut geht wie nie zuvor. Fallen Ihre Analysen der Realität womöglich etwas zu negativ aus?

De Masi: Wer ist Deutschland? Im Schnitt haben der Millionär und die Putzfrau jeder 500.000 Euro. Und Martin Schulz hat seinen Umfrage-Hype gehabt, als er sozial blinkte. Nur: Man muss auch abbiegen.

Kann es sein, dass relativ nüchterne Politiker wie Angela Merkel oder Olaf Scholz die Menschen nicht mehr ansprechen? Braucht Politik mehr Emotion, mehr Willy Brandt oder Obama?

De Masi: Ja. Die Konzentration von wirtschaftlicher Macht bedroht die Demokratie. Deswegen ist auch Emotion im Sinne von „Wir hier unten gegen die da oben“ nötig.

Teichert: Ja. Eines ist klar: Wir haben jetzt Rekordsteuereinnahmen und Niedrigzinsen. Wenn wir jetzt nicht die Weichen umstellen – wann dann?

SPD-Mann Johannes Kahrs hat gesagt, „Aufstehen“ sei nur ein „Pups“.

De Masi: Aber der stinkt ihm schon gewaltig, oder?