Interview zur Europawahl

Makroskop Interview

09.04.2024

Erschienen bei Makroskop

Fabio De Masi ist Spitzenkandidat des Bündnisses Sarah Wagenknecht (BSW) für das Europaparlament. Bereits in der Vergangenheit war er für die Partei „Die Linke“ Mitglied des Europaparlaments und des Bundestages. In einem offenen Brief, der auf MAKROSKOP veröffentlicht wurde, begründete De Masi im Juni 2021, warum er nicht mehr für die Linke kandidieren wollte. Der Finanzexperte zeigte sich mit dem Bild der Partei in der Öffentlichkeit unzufrieden und monierte, dass diese nicht genügend mit den Interessen der sogenannten „einfachen Leute“ in Verbindung gebracht werde. Insbesondere ökonomische Fragen würden in der Linkspartei nicht ernst genug genommen. Mit ihm sprach Ulrike Simon.

 

Herr De Masi, ihre Entscheidung, für das BSW anzutreten, hat für Aufsehen gesorgt. Was hat sie zu diesem für viele überraschenden Schritt bewogen?

 

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ampel sowie die Außenpolitik sind eine Katastrophe. Mit dem sogenannten Wirtschaftskrieg schaden wir uns selbst mehr als Russland, wie die Studie „The Gift of Sanctions“ des US-Ökonomen James Galbraith, Sohn des legendären Wirtschaftsberaters von John F Kennedy, kürzlich herausarbeitete. Denn Deutschland ist ein Scharnier zwischen West und Ost und auf russisches Gas als Brückentechnologie ins nicht-fossile Zeitalter angewiesen.

 

Die Ampel kürzt nach dem Energiepreisschock in die Krise hinein und hat die außergewöhnliche Notlage der Schuldenbremse außer Kraft gesetzt. Dies führt nun zur Wiederanhebung der Mehrwertsteuer und CO2 Abgaben. Diese haben kaum eine ökologische Lenkungswirkung und werden nicht einmal durch ein Energiegeld kompensiert. Während die USA mit dem Inflation Reduction Act in Zukunftstechnologien investieren, werden bei uns Milliarden im Beschaffungsfilz des militärisch-industriellen Komplexes versenkt, statt etwa China in eine diplomatische Lösung des Ukraine-Krieges einzubinden. Und im Gaza Konflikt hat die Bundesregierung monatelang zur unverhältnismäßigen Militärkampagne Netanyahus geschweigen und viel diplomatisches Kapital im Nahen und Mittleren Osten zerstört.

 

Ich halte diese Politik für gefährlich und verantwortungslos. Die Ampel ist die Erntehelferin der AfD.

 

Sie haben inzwischen ein Buch geschrieben. Wovon handelt es, und wann wird es voraussichtlich erscheinen?

 

Es ist noch nicht ganz fertig. Es handelt von Finanzkrisen und Finanzskandalen wie Cum-Ex und dem Wirecard-Skandal und meiner Zeit im Parlament. Ich werde dabei auch beleuchten warum sich die politische Linke nach der Finanzkrise und der Kürzungspolitik in der Euro-Zone, als alle meinten es sei nun die Stunde der Kapitalismuskritiker, selbst amputiert hat.

 

Sie waren als Abgeordneter in beiden Parlamenten Spezialist für die Finanzindustrie und ihre Skandale. Sie sagen, sinngemäß, dass nach der Finanzkrise 2008 die Hoffnung bestand, dass die seit Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre immer mehr entfesselte Macht der Finanzmärkte zurückgedrängt werden würde. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Welche Folgen hat dies für die Demokratien in Europa?

 

Eine Studie unter Beteiligung schwedischer Zentralbanker – „The Political Costs of Austerity“ hat über 200 europäische Wahlen ausgewertet und kam zu dem Ergebnis, dass diese Politik rechte Parteien stärkt. Was viele nur unzureichend verstanden haben: Der Niedergang der Sozialdemokratie und auch von Linksparteien in Europa, wie Syriza oder der deutschen Linkspartei, sowie der Aufstieg der politischen Rechten in Europa und von Donald Trump in den USA hängen mit dem Versagen zusammen sich als ökonomische Schutzmacht der Mittelschicht und der „kleinen Leute“ zu behaupten. Ursula von der Leyen ist unbeliebt, aber bei der Europawahl unangefochten, weil die Sozialdemokratie in den Jahren der Euro-Krise und der Kürzungspolitik, als die Finanzkrise auf die Bevölkerungsmehrheit abgewälzt wurde, diese Politik mit durchsetzte. In Griechenland führte Syriza eine Volksabstimmung gegen die Kürzungspolitik durch und kapitulierte. In Italien wurde der korrupte Berlusconi nicht durch die Wähler, sondern durch die EZB gestürzt. Das war Merkels „marktkonforme Demokratie“.

 

„In einer Wirtschaft, die von Tech Konzernen dominiert wird und in der schlecht bezahlte Arbeitsmigranten als Essenlieferanten durch unsere Innenstädte hetzen, löst sich die Solidarität auf.“

 

Wenn heute ein Reeder und Millionär an der Spitze der griechischen Linkspartei steht, der über eine Instagram Kampagne die Macht übernahm, und die Wirtschaftspolitik Thatchers lobte, ist dies ein perfektes Sinnbild für die Entwicklung der politischen Linken in Europa. Die Menschen verstehen heute unter Links nicht mehr die soziale Frage oder die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, die unser politisches System über Jahrzehnte prägte, sondern Kulturkampf. In einer Wirtschaft, die von marktbeherrschenden Tech Konzernen dominiert wird und in der schlecht bezahlte Arbeitsmigranten als Essenlieferanten durch unsere Innenstädte hetzen, löst sich die Solidarität auf. Das zersetzt die Demokratie.

 

Gibt es einen Zusammenhang zwischen staatlicher Sparpolitik und den Interessen der Finanzindustrie?

 

Es gibt keinen mechanischen Zusammenhang. In den angelsächsischen Ländern wurden die stagnierenden Reallöhne seit Mitte der 1970er Jahre etwa durch private Verschuldung und eine Expansion der Konsumentenkredite bzw. des Finanzmarkts kompensiert. In den USA spielen sowohl die private wie auch die öffentliche Verschuldung eine große Rolle für die Wachstumsdynamik. Die Finanzpolitik des Staates ist pragmatischer als in Deutschland.

 

Doch die USA und Deutschland sind zwei Seiten einer Medaille, da die angelsächsische Verschuldung die Voraussetzung für den deutschen Export war. Andernfalls wäre Deutschland schon viel früher mit der Schuldenbremse kollabiert. Mit dem Wirtschaftskrieg ist das deutsche Exportmodell nun einer Schocktherapie ausgesetzte und die deutsche Volkswirtschaft verfügt wegen der Schuldenbremse nicht über strategische Flexibilität darauf durch öffentliche Investitionen zu reagieren.

 

Der Kredit hat die Dynamik der Marktwirtschaft erst ermöglicht. Aber die Renditeansprüche des Finanzmarktes üben auch Druck auf die Unternehmen und die Löhne aus. Wie früher die Rentiers und die Landbesitzer, die Industrie und Arbeitern auf der Tasche lagen, oder die Könige und Priester zu Zeiten der Monarchie, wird ein ökonomischer Tribut eingefordert. Das sind heute die Vermögens- und Finanzmärkte und die Eigentümer der Tech Konzerne.

 

Deutschland schmarotzte sich hingehen die Nachfrage über den Export im Ausland und setzte etwa auf die Schuldenbremse. Auch da gibt es einen Zusammenhang mit dem Finanzmarkt. Denn die Renditejäger haben natürlich ein Interesse an Privatisierungen, um angesichts des Anlagedrucks neue rentable Investitionen zu ermöglichen. Denn die Liquidität auf den Finanzmärkten wird nur unzureichend über öffentliche Investitionen abgeschöpft.

 

Unsere Industrie hat weniger auf den angelsächsischen Finanzmarktkapitalismus gesetzt, aber war von ihm abhängig, um die Nachfrage nach Made in Germany zu erhalten. Nun mit dem Wirtschaftskrieg kommt Made in Germany in die Krise.

 

Viele Menschen, die sich als progressiv definieren, sind der Auffassung, dass die größte Gefahr für unsere Demokratie vom Erstarken der AfD ausgeht. Sie hingegen scheinen die Macht der Finanzmärkte als größere Gefahr einzuschätzen. Stimmt das, und, wenn ja, warum?

 

Beides hängt zusammen. Wenn in Unternehmen etwa Shareholder Value und somit kurzfristiges Renditestreben dominiert, leiden Forschung und Entwicklung. Dies trägt zu Trägheit bei Innovationen bei und zerstört Industriearbeitsplätze. Denken Sie an den Abstieg Großbritanniens als Industrienation – verstärkt unter Margret Thatcher. Der Brexit und die Perspektivlosigkeit im deindustrialisierten Norden Englands und der Aufstieg der City of London sind siamesische Zwillinge. Ähnliche Muster gibt es in der Wählerschaft der AfD.

 

Sie und das BSW möchten der vermeintlichen politischen Alternativlosigkeit entgegentreten. Welche finanzpolitischen Forderungen stellen Sie an die EU? Gäbe es auch einfache Teillösungen, ohne dass man gleich das „große Ganze“ umkrempeln müsste?

 

Natürlich. Denken Sie etwa an eine Goldene Regel zur Reform der europäischen Schuldenbremsen, die Kredite für Investitionen ermöglicht. Länder wie Italien stagnieren seit vielen Jahren, weil sie bis zur Corona Krise fast durchgehend Primärüberschüsse, also Haushaltsüberschüsse vor Zinsen, erzielten und folglich zu wenig investieren. Die Wirtschaft fiel ins Koma. Wir konnten daher das Schuldenparadox beobachten: Italien „sparte“ wie ein Weltmeister, sparte im Ergebnis aber nicht, da die Wirtschaft einbrach. Die Schuldenquote sank daher nicht nachhaltig. Italien muss also mehr investieren, um Jobs zu schaffen, die Wirtschaft anzuschieben und Strukturwandel zu ermöglichen. Scheitert eine solche Reform, wäre es etwa möglich, das Kapital der Europäischen Investitionsbank zu erhöhen. Solche Kapitalerhöhungen werden nicht auf die Verschuldung angerechnet. SPD und Grüne wollen aber eine Goldene Regel nur für den militärischen Bereich und die EIB zur Rüstungsbank umbauen. Das sind dieselben Debatten wie vor zehn Jahren, als ich schon einmal dem EU-Parlament angehörte. Das Steuerdumping der Konzerne könnten wir hingegen über Quellen- oder Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen angehen und so den Druck für eine EU-Mindeststeuer erhöhen.

 

Welche Macht hat das Europaparlament, solche Forderungen zu realisieren?

 

Das EU-Parlament hat kein eigenes Initiativrecht bei Gesetzen. Im Bereich der Unternehmenssteuern hat die EU laut EU-Verträgen etwa gar keine Kompetenzen, außer über das Wettbewerbsrecht. Vereinfacht gesprochen: Wenn Amazon ein Prozent Steuern zahlt, aber Google null Prozent, ist das eine Wettbewerbsverzerrung und eine Diskriminierung von Amazon. Zahlen beide null Prozent, ist alles in Butter. So kommen Sie natürlich nicht weit. Daher ist in der EU über die Verträge der Wettbewerb um niedrige Konzernsteuern bereits angelegt. Denn sie können zwar die Bemessungsgrundlage, also was als Gewinn zählt, harmonisieren, aber keine Mindeststeuern durchsetzen. Es gibt ohnehin immer eine Steueroase, die so etwas per Veto boykottiert. Im Zweifel intensiviert diese Art der Harmonisierung über das Wettbewerbsrecht sogar den Steuerwettbewerb. Daher kann das EU-Parlament nur Druck aufbauen.

 

„Die Troika war in der Euro-Krise mit ihrer Kürzungspolitik so etwas wie eine supranationale Wirtschaftsregierung.“

 

Ich halte daher aber auch wenig von dem Ansatz immer mehr EU-Kompetenzen zu fordern. Die Troika war in der Euro-Krise ja mit ihrer Kürzungspolitik so etwas wie eine supranationale Wirtschaftsregierung. Mit verheerenden Ergebnissen, da die demokratische Kontrolle geschwächt wurde. Man braucht daher auch den Nationalstaat. Praktisch würde dass etwa bedeuten, dass zum Beispiel Deutschland und Frankreich Strafsteuern auf Finanzflüsse von Apple in eine Steueroase erheben. Die wollen ja ihr IPhone in Deutschland und Frankreich und nicht überwiegend in Luxemburg verkaufen. Mit einer solchen verstärkten Zusammenarbeit übt man dann auch Druck im Sinne europäischer Lösungen aus.

 

Wie schätzen Sie Ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten im Europaparlament ein?

 

Keine Sorge. Ich war 2014 ein No-Name im EU-Parlament. Nach kurzer Zeit kannte man meinen Namen. Mit Öffentlichkeit lassen sich auch Dinge durchsetzen. Und ich bin optimistisch, dass wir eine Fraktion bilden können, die auch ein Machtfaktor wird.

 

Viele Kritiker der unsozialen Verhältnisse in Europa fordern mehr europäische Gesetze. In Großbritannien stimmten nicht wenige Remainer auch deshalb gegen den Brexit, weil sie in der EU ein Schutzschild gegen die neoliberale Politik in ihrem Land sahen. Auch mehr europäisches Geld wird gefordert, etwa für Regionalprogramme, um die großen regionalen Ungleichheiten in Europa zu beseitigen. Das BSW hingegen will weniger Europa und mehr nationale Gelder für Strukturpolitik. Warum?

 

Ich verstehe die Frage nicht ganz. Wir fordern nicht mehr nationale Gelder in der Strukturpolitik. Die Strukturfonds spielen ja durchaus eine wichtige Rolle in den Regionen. Wir wollen keinen Aufwuchs des EU-Haushaltes gemessen am BIP. Und zwar, weil der EU-Haushalt ein Macht-Instrument der Kommission ist, um ein Europa im Interesse der großen Player auf dem Binnenmarkt durchzusetzen. Oft geht mit EU-Geldern ein Hineinregieren in die jeweiligen Länder und Kommunen einher. Ähnlich wie bei der vermeintlichen Euro-Rettung vor vielen Jahren. Wir sagen die EU-Staaten hätten mehr davon, wenn sie mehr nationale Spielräume für Investitionen, Stichwort Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, erhalten. Denn an die EU-Geldern sind oft wachstumsfeindliche Strukturreformen wie Privatisierung von Infrastruktur oder Liberalisierung der Arbeitsmärkte gekoppelt. 

 

Auch die AfD ist eine europakritische Partei. Worin unterscheidet sich – wenn überhaupt - ihre Europakritik grundsätzlich von der der AfD?

 

Die AfD ist eine Partei des schwachen Staates, der Privatsierungen, der Lohn- und Rentenkürzungen und der Ressentiments. Damit haben wir nichts zu tun.

 

Sie bemängeln die Polarisierung und die „kranke“ Diskussionskultur in Deutschland.

Viele Menschen aus dem eher linken Spektrum halten Hate Speech, Antisemitismus und Fake News für das, was unsere Diskussionskultur krank macht, und begrüßen Maßnahmen des Staates dagegen. Wie schätzen sie die Gefahr dieser Phänomene ein?

 

Hate Speech, Fake News und Antisemitismus sind natürlich Gefahren. Doch wir erleben auch immer engere Meinungskorridore. Denken Sie etwa über die Fehler in der Corona-Krise und die Diskussionskultur nach oder aktuell jene zum Ukraine-Krieg oder dem Gaza-Konflikt. Wir haben im Prinzip im Daten- und Internetzeitalter im Unterschied etwa zu den Öffentlich-Rechtlichen Medien, an denen es viel berechtigte Kritik gibt, nur eine private Kommunikationsinfrastruktur in den Händen der Big Tech-Oligarchen. Die können über ihre Algorithmen entscheiden, was wir lesen, wahrnehmen und wie wir diskutieren.

 

„Wir erleben immer engere Meinungskorridore.“

 

In Zukunft muss man keinen Oppositionellen mehr in den Knast stecken. Private Konzerne können einfach dafür sorgen, dass Politiker die zum Beispiel die Marktmacht von Meta oder X beschränken wollen, nicht mehr im Internet stattfinden. Im Prinzip ist das wie Fernsehen nur mit Netflix und RTL 2 aber ohne Tagesschau. Dass das eine Gefahr für die Demokratie ist, ist evident. Man darf aber eben auch nicht, wie im Digital Service Act, Befugnisse, in die Meinungsfreiheit einzugreifen, an private Konzerne outsourcen. Das ist die Aufgabe von Gerichten. So sehr es etwa einige Leute freute als Donald Trump von Twitter verschwand: Was ist, wenn Elon Musk Lula abdreht? Solche Entscheidungen darf man nicht Tech-Konzernen überlassen, die unsere moderne Kommunikationsinfrastruktur beherrschen.

 

Was würden Sie sich in diesem Zusammenhang wünschen?

 

Die Öffentlich-Rechtlichen Medien haben viele Defizite. Aber dennoch ist es wichtig, dass es sie gibt und nicht nur Axel-Springer. Wir brauchen daher so etwas wie eine öffentlich-rechtliche Kommunikationsinfrastruktur, die Alternativen zu privater Daten- und Konzernmacht schafft und zum Beispiel Algorithmen offenlegt. Das geht mit dem EU-Beihilferecht kaum. Eine Art eigenes YouTube von BBC und ZDF ist derzeit nicht möglich. Das müssen wir ändern. Das Alles darf nur nicht wie beim ÖRR von vermachteten Rundfunkräten und Parteien dominiert werden. Aber ich denke doch, dass wir eine öffentliche digitale Infrastruktur für das 21. Jahrhundert brauchen.

 

Herr De Masi, vielen Dank für dieses Gespräch!