Schuldenbremse: Die Lebenslüge

Kolumne Berliner Zeitung

23.11.2023
Frankfurt am Main, Hessen, 01.12.2011

Erschienen in Berliner Zeitung

Rien ne va plus. Die Schuldenbremse und Ampel-Koalition haben Deutschland in eine Verfassungs- und Staatskrise gestürzt. Die Schuldenbremse untersagt dem Staat weitgehend die Kreditfinanzierung. Dies bremst langfristige Investitionen und verhindert, dass Deutschland die Wirtschaft fit für die Zukunft macht.

Die Schuldenbremse könnte in Zeiten großer technologischer und geopolitischer Umbrüche zum Kipppunkt der deutschen Wirtschaft werden. Ähnlich der „eisernen Lady“ Margaret Thatcher in Großbritannien, die dem Land Privatisierungen sowie Kürzungen von Investitionen und Sozialstaat verordnete. Ökonomen der Universität Cambridge machten ihre Politik für die extreme Deindustrialisierung der Insel und einen Verfall der Produktivität verantwortlich.

 

Deutsche Wirtschaft in der Krise: Woher kommen unsere Probleme?

 

Wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde, doch bei der Investitionsquote, den Investitionen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), sind wir Schlusslicht in Europa. Verspätete Züge, marode Schulen und fehlender Wohnraum in Deutschland sind das Ergebnis. Wir zehren unseren Kapitalstock auf, der von Generationen vor uns aufgebaut wurde.

 

Wenn wir in Zukunftstechnologien investieren oder Universitäten bauen, nützt dies auch unseren Enkelkindern, die sich über Zinsen und Tilgung an der Finanzierung beteiligen. So können wir große Investitionen stemmen. Ein Haus baut man auch auf Raten. Vor dem Ukraine-Krieg und Energiepreisschock waren die Zinsen niedrig. Sie wurden nicht genutzt. Deutschland hat sich zu lange auf den Export und die Nachfrage aus dem Ausland verlassen. Dies rächt sich in Corona-Krise und Wirtschaftskrieg, die globale Lieferketten zerrütteten.

Auch die aktuelle Teuerung bekämpft man nicht durch weniger, sondern durch mehr Staatsausgaben wie etwa die USA mit dem „Inflation Reduction Act“. Wir haben keine Inflation aufgrund überhitzter Nachfrage, sondern unzureichende Energie-Kapazitäten und Profitinflation durch marktbeherrschende Konzerne. Wenn wir etwa nun aufgrund der Schuldenbremse, die Energiepreise nicht durch Preisbremsen drosseln, kann dies die Teuerung erneut verschärfen.

 

Schuldenbremse oder Investitionsbremse? Die dümmste Regel Deutschlands

 

Wer eine „Investitionsbremse“ ins Grundgesetz hebt, darf sich daher nicht wundern, wenn Verfassungsrichter Finanzpolitik machen. Dies ist nicht nur der Union oder dem störrischen FDP-Finanzminister Christian Lindner anzulasten. Der wurde ohnehin nur Finanzminister, weil die Grünen auch das Außenministerium beanspruchten.

 

Die SPD hat die Regel selbst im Grundgesetz verankert und Bundeskanzler Olaf Scholz hat sie stets befürwortet. Wesentliche Finanzpolitiker der Grünen wollten sie einst sogar verschärfen, darunter Robert Habecks Staatssekretärin Anja Hajduk. Und der Haushalt wird von der Mehrheit im Bundestag beschlossen. SPD und Grüne haben bei Abstimmungen im Bundestag genug Daumenschrauben für Herrn Lindner. Dafür reichen schon ein paar Jusos, die aus der Reihe tanzen. Die Ampel-Koalition zofft sich täglich vor dem ganzen Land wie Oliver und Amira Pocher. Aber beim Haushalt und der fatalen Beendigung der außergewöhnlichen Notlage, die das Kreditverbot aussetzt, gab es nicht mal einen Zwergenaufstand.

 

Die Bundesregierung wusste, dass die Schuldenbremse unvereinbar mit ihren eigenen Projekten war

 

Die Ampel-Koalition hat viel dafür getan, die Krise in turbulenten Zeiten zu vertiefen. Als wären die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht genug, hat die Ampel mitten in Wirtschaftskrieg und Energiepreisschock die Staatsausgaben gekürzt, statt die außergewöhnliche Notlage zu verlängern. Dies hat auch den privaten Investitionshunger weiter gebremst. Deutschland rutschte bereits als einziges Industrieland in die Rezession. Die USA oder China schieben derweil riesige Investitionen in Zukunftstechnologien an.

 

Die Ampel-Koalition wusste, dass die Schuldenbremse unvereinbar mit den wirtschaftlichen Erfordernissen und den Projekten der Koalitionspartner war. Doch um der FDP einen Pyrrhussieg zu gönnen, wurden die Kredite zurückgefahren und stattdessen Schattenhaushalte geschaffen. Die Ampel legte zudem ein Sondervermögen Bundeswehr auf und änderte hierfür mit der Union das Grundgesetz, um Rüstungsausgaben verfassungsfest zu machen. Dabei ist das Beschaffungswesen ein schwarzes Loch. Bei zivilen Investitionen gab es hingegen den eisernen Kürzungshammer.

 

Für die Projekte von FDP und Grünen sollte es aber doch ein paar Ausnahmen geben, um die Zwangsehe der Ampel zusammenzuhalten: Der Klima- und Transformationsfonds (KTF) sollte dabei auf 60 Milliarden Euro Kreditermächtigungen zurückgreifen, die in der Corona-Krise nicht genutzt und vom Bundestag für 2023 „umgebucht“ wurden. Das Verfassungsgericht hat der Ampel nun der Umbuchung der Notlagen-Kredite Antrag der CDU/CSU einen Riegel vorgeschoben. Und auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) wurde gesperrt.

 

Milliarden in das marode Beschaffungssystem der Bundeswehr zu pumpen, aber etwa die CO2 Preise zu erhöhen oder bei Renten und Bürgergeld zu kürzen, wie es nun zur Lösung der Haushaltskrise diskutiert wurde, würde vielleicht die AfD auf neue Höhen treiben, aber auch Widerstände gegen den ökologischen Umbau der Wirtschaft erhöhen. Die am wenigsten konjunkturschädlichen Varianten wie eine gezielte Krisenabgabe auf Multi-Millionen Vermögen ist hingegen mit der FDP nicht zu machen, und entspricht auch nicht den politischen Ideen von Robert Habeck und Olaf Scholz. Höhere Steuern für das obere ein Prozent sind nötig, aber wären auch kurzfristig nicht hinreichend, um den großen Investitionsbedarf zu finanzieren.

 

Bei den Grünen beeilte man sich daher vorsorglich, sich als neue Braut für die CDU anzudienen. So forderte der grüne Finanzminister von Baden-Württemberg Danyal Bayaz bereits Sozialkürzungen und Robert Habeck stellte die Energiepreisbremsen in Frage. Und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lockten Olaf Scholz indes mit einer Großen Koalition und der Reform der Schuldenbremse.

 

Finanzminister Lindner will die Schuldenbremse aussetzen: Ein Abo auf die Notlage?

 

Finanzminister Christian Lindner, dessen FDP an der Fünf Prozent Hürde kratzt, hat die Botschaft verstanden und daher nun offenbar eingelenkt. Er hat laut Medienberichten zugestimmt, für 2023 eine erneute außergewöhnliche Notlage anzustreben, die die Ampel-Koalition vorher noch trotz Ukraine-Krieg und Energiepreisschock in trauter Dämlichkeit beendet hatte, und die Schuldenbremse somit auszusetzen. Ob die erneute Beantragung der Notlage daher verfassungsfest ist, bleibt ungewiss.

 

Die Schuldenbremse erlaubt nämlich Ausnahmen vom weitgehenden Kreditverbot bei Naturkatastrophen oder einer außergewöhnlichen Notlage, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die Staatsfinanzen haben. Diese Notlage wurde in der Corona-Krise aktiviert. Es gibt zudem eine Konjunktur-Komponente. Aber beide Ausnahmen greifen erst wenn der Karren bereits feststeckt, und erlauben es nicht sich vorausschauend gegen Krisen zu stemmen. Investitionen brauchen Zeit, um zu wirken. Wenn ein Staat chronisch zu wenig investiert, ist auch die wirtschaftliche Entwicklung zuweilen gehemmt. Die Konjunkturkomponente unterzeichnet daher das Problem. Ein schlechter Tag fällt bei einem Miesepeter auch weniger auf.

 

Fast vier Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie stellt sich aber die Frage, wozu eine Schuldenregel im Grundgesetz taugt, deren Notausgang zu einer Dauereinrichtung wurde. Wäre es da nicht ehrlicher, die Lebenslüge zu beenden und die Schuldenbremse zu reformieren?

 

Eine Möglichkeit wäre es daher, zur sogenannten goldenen Regel der Haushaltspolitik zurückzukehren, Kredite im Umfang der Investitionen zu ermöglichen und im Gegenzug Schattenhaushalte zu unterbinden. Dies hatte ich 2019 im Deutschen Bundestag beantragt. Auch SPD und Grüne stemmten sich damals dagegen. Nun fordern dies selbst Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sowie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

 

Auch die CDU wird die Schuldenbremse reformieren (müssen)

 

Denn die Union stünde im Falle eines Wahlsieges 2025 und einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung durch Wirtschaftskrieg und Schocktherapie mit der Schuldenbremse vor demselben Dilemma wie Scholz. Mit dem Kürzungshammer und einer tiefen Rezession werden keine Wahlen gewonnen. Das wissen auch die CDU-Ministerpräsidenten in den Ländern.

Die Union wird Scholz in der Opposition nicht den Gefallen tun, einer Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen. Aber auch Friedrich Merz (CDU) wird früher oder später unter Druck der deutschen Wirtschaft und der innerparteilichen Konkurrenz kommen. Zudem wird ein Festhalten an der Schuldenbremse auch die Vermögensbesteuerung zurück in das Zentrum der politischen Debatte rücken. Es ist eine feine Ironie der Geschichte: Aber am Ende wird wohl nur die CDU die Schuldenbremse reformieren können. Frei nach dem Motto: Nur Nixon konnte nach China