Facharbeiter für Heuchelei – warum Spitzenpolitiker das Leistungsprinzip ad absurdum führen

Berliner Zeitung

17.09.2023
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Die Sozialleistungen müssen niedrig bleiben, damit sich Arbeit wieder lohnt, meinen Politiker wie Jens Spahn. Ihre Zahlen basieren jedoch auf Fake News, meint unser Autor.

Facharbeiter für Heuchelei

Es gibt derzeit kaum ein Interview von Leuten wie Jens Spahn (CDU) oder Finanzminister Christian Lindner (FDP), in dem betont nicht wird, dass arbeitenden Menschen mehr Einkommen zusteht als nicht-Erwerbstätigen. Gemeint ist dabei die Kritik an moderaten Erhöhungen des Bürgergelds. Dies nennt man das Lohnabstandsgebot, wonach ein Abstand zwischen der Höhe der Sozialtransfers und der Höhe der untersten Lohngruppen gewahrt werden muss, um Anreize zu erhalten, einer Beschäftigung nachzugehen.

Bereits der verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle betonte, eine Kellnerin müsse mehr haben als ein Hartz-IV-Empfänger, und beklagte in Deutschland „sozialistische Züge“. Die Deutsche Bahn, die dank Investitionsstau und Renditezielen notorisch zu spät kommt, hat er damit übrigens nicht gemeint. Der Verkehrsminister ist schließlich von der FDP.

Widmen wir uns also zunächst Jens Spahn (CDU), der kürzlich die geplante Anhebung des Bürgergeldes kritisierte. Spahn betonte im Deutschlandfunk „Wer arbeiten kann, sollte arbeiten“ und forderte „Respekt gegenüber der Leistung von Erwerbstätigen“. Gegenüber Bild verbreitete Spahn: „Zudem zahlt ein Facharbeiter mit 62.000 Euro Jahresgehalt schon den Spitzensteuersatz.“ Außerdem kritisierte Spahn, dass durch die geplante Erhöhung des Bürgergelds eine vierköpfige Familie im Schnitt so viel erhalten würde wie eine Durchschnittsverdiener-Familie. Aber der Reihe nach:

Politik als Geschäft

Mit der Welt gewöhnlicher Arbeiter kennt sich Jens Spahn sicher aus. Denn er sitzt seit dem 22. Lebensjahr im Bundestag und verschleiert die Herkunft seiner Gelder für eine Multi-Millionen-Villa, die er vor einiger Zeit erwarb (und wieder verkaufte). Denn dafür hätte selbst die Bundestags-Diät nicht gereicht. Der Spiegel und Die Zeit berichteten unter anderem darüber, dass ein Vertrauter Spahns behauptet habe, der Kauf sei mit dem Erbe seines Ehemannes, dem Burda-Lobbyisten Daniel Funke, besichert worden. Das entpuppte sich als unwahr.

Nun ist es mir persönlich egal, ob sich Spahn ein kitschiges Architekturverbrechen in Dahlem gönnt. Aber von öffentlichem Interesse ist die Herkunft der Gelder schon daher, weil bei Spahn nicht immer klar ist, welcher „Erwerbstätigkeit“ er aktuell so nachgeht. Spahn ist dafür bekannt, dass er Politik als Geschäft betreibt. Während seiner Zeit als parlamentarischer Staatssekretär im Finanzministerium investierte er in eine Firma für Steuerberatungssoftware („Taxbutler“) und fand das eine „pfiffige Idee“. Da war sicher praktisch, dass man selbst die Steuergesetze macht und immer ein bisschen früher Bescheid wusste. Taxbutler rutschte schließlich in die Insolvenz.

Mit seinem Maskenchaos in der Corona-Krise machte Spahn Parteifreunde mit schäbigen Maskendeals zu Millionären, eine Armee von Beratern verdiente sich dumm und dämlich und große Logistikaufträge in dreistelliger Millionenhöhe gingen ohne Ausschreibung an eine Firma aus seinem politischen Umfeld. Während der Corona-Krise sammelte Spahn auch anonyme Spenden von Geschäftsleuten ein, die er nicht offenlegen wollte. Er infomierte überdies Unternehmer in vertraulichen Runden über politische Entwicklungen in der Corona-Krise, die für Geschäfte genutzt werden konnten.

Eine solche Videokonferenz fand auf Einladung des Hamburger Investors Sumeet Gulati statt. Eingeladen war auch der CEO des Betrugskonzerns Wirecard. Doch weder das Gesundheitsministerium noch Jens Spahn nennen die Teilnehmer.

Fake-Zahlen zum Spitzensteuersatz

Blicken wir also auf die Aussage von „Facharbeiter Jens“ wonach ein Facharbeiter mit 62.000 Euro Jahresgehalt schon den „Spitzensteuersatz“ zahle:

Der Spitzensteuersatz wird nicht auf das gesamte Einkommen erhoben, sondern betrifft nur jenen Teil des Einkommens, der über einer bestimmten Schwelle liegt. Wer also nach Abzügen (Freibeträge, Sozialabgaben oder Ähnliches) als ledige Person auf über etwa 278.000 Euro Jahreseinkommen kommt, muss die sogenannte Reichensteuer von 45 Prozent nur auf jenen Euro entrichten, der über dieser Schwelle liegt. Ein Bundeskanzler verdient etwa in dieser Größenordnung.

In der Debatte um den Spitzensteuersatz ist aber gewöhnlich nicht diese Reichensteuer gemeint, auch wenn sie die tatsächliche Spitze der Einkommensbesteuerung abbildet, sondern der Grenzsteuersatz von 42 Prozent, der auf jeden Euro zu versteuernden Einkommen über rund 62.000 Euro greift. Genauer: Wer ein Einkommen von 62.811 Euro zu versteuern hat und somit ein Euro über der Grenze liegt, entrichtet auf einen Euro davon 42 Cent und auf die restlichen Euros davor geringere Steuern. So werden etwa die ersten 10.000 Euro Jahreseinkommen als Grundfreibetrag gar nicht besteuert.

Die durchschnittliche Belastung des gesamten Einkommens ist daher weit geringer. Ich habe als Bundestagabgeordneter den 42-Prozent-Steuersatz auf einen Teil meines Einkommens gezahlt. Im Durchschnitt entrichtete ich aber etwas mehr als 30 Prozent Steuern. Daher wäre es sinnvoller, in steuerpolitischen Debatten über die durchschnittlichen Steuern zu sprechen. Ich persönlich fände es richtig, den Spitzensteuersatz später greifen zu lassen, im Gegenzug aber bei sehr hohen Einkommen zu erhöhen. Unter Konrad Adenauer oder Helmut Kohl lagen die Spitzensteuersätze erheblich höher. Deutlich gesenkt wurde der Spitzensteuersatz ausgerechnet unter der rot-grünen Bundesregierung Gerhard Schröders.

Das Problem: Jens Spahn hat als Profi-Politiker und früherer Staatssekretär im Finanzministerium offenbar nicht verstanden, dass es einen Unterschied zwischen dem Bruttoeinkommen und dem zu versteuernden Einkommen gibt. Spahn suggeriert, wer als Facharbeiter etwas über 5.000 Euro brutto im Monat verdient, zahle auf ein paar dieser Euros 42 Prozent Steuern. Das ist falsch. Denn entscheidend ist nicht das Bruttoeinkommen, sondern das erheblich niedrigere zu versteuernde Einkommen. Schließlich werden vom Bruttogehalt etwa Krankenversicherungsbeiträge und weitere Vorsorgeaufwendungen abgezogen. Zusätzlich gibt es den Kinderfreibetrag, Sonderausgaben wie Spenden oder Kinderbetreuungskosten und vieles mehr. Wer also knapp über 62.811 Euro brutto verdient, weist ein erheblich niedrigeres zu versteuernden Einkommen aus.

Die fehlende Finanzbildung vermeintlicher konservativer Arbeiterführer hat jedoch System. So behauptete bereits im November 2022 der Redaktionsleiter Landespolitik, Achim Wendler, in einem Tagesthemen-Kommentar „Wer mehr als 862 Euro im Monat verdient, finanziert mit seinen Steuern Bürgergeld -Empfänger mit Schonvermögen von 60.000 Euro. Das ist nicht gerecht.“

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