Der Euro-Ausstieg ist eine Waffe

Gespräch mit Heiner Flassbeck. Von Simon Zeise

09.11.2015
Von Simon Zeise

Gespräch mit Heiner Flassbeck. Über die Euro-Krise, Möglichkeiten einer linken Alternative und die fehlende, aber dringend notwendige Debatte über einen »Plan B«.

Das Interview mit Heiner Flassbeck erschien in der Wochenendbeilage der Tageszeitung junge Welt am 07.11.2015 auf Seite 1. Das Interview ist auf der Webseite der jungen Welt in voller Länge abrufbar.

jW: Die Regierung des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras hat beschlossen, die Kürzungsauflagen, die die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds, die EU-Kommission und der Europäische Stabilitätsmechanismus einfordern, umzusetzen. Am 20. September wurde Tsipras erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Stimmt Sie der Wahlausgang optimistisch?

Heiner Flassbeck: Nein, da kann man nicht optimistisch sein, weil die Wahl nichts an der Situation geändert hat. Ministerpräsident Alexis Tsipras wird versuchen, noch etwas herauszuholen, aber ich glaube, da braucht man keine großen Hoffnungen zu haben. Grundsätzlich wird sich das Programm nicht ändern. Es ist restriktiv. Meiner Einschätzung nach wird es Griechenland weiter in die Krise treiben. Die kritische Frage in einem Jahr – wenn Griechenland noch tiefer in die Rezession gerutscht sein wird – wird sein, ob Tsipras dann genug Unterstützung von Regierungen im Rest Europas findet, die sagen: Nein, so geht es nicht, wir müssen die Politik ändern. Das kann ich nicht ausschließen, und das ist wohl seine Hoffnung. Aber auch das ist überhaupt nicht sicher.

Welchen Fehler hat Tsipras gemacht?

Er hat etwas versucht, das von vornherein unmöglich war. Insofern kann man nicht sagen, er hat einen Fehler gemacht. Er war nur naiv, denn er hat nicht verstanden, dass man mit einem rein griechischen Mandat in Europa nichts erreichen kann. Zwar hat er versucht, Freunde zu finden, vor allem in Frankreich und Italien, aber die waren nicht stark genug oder bereit, sich wirklich auf seine Seite zu stellen. Die einzige Option, die er hatte, war, eine Koalition zu formen, die sich gegen Deutschland stellt und sagt: So geht es nicht. Die hat er nicht gefunden, und damit hatte er von Anfang an keine Chance.

Ein Alternativprogramm, wie Sie es vorschlagen, wäre, für einen Austritt aus der Gemeinschaftswährung einzutreten.

Ja, aber das wollen die Leute in Griechenland nicht. Es gab ja eine Partei, die »Volkseinheit«, für die habe ich selbst bis kurz vor der Wahl in Athen geworben. Sie hat aber nur 2,8 Prozent gekriegt, was zeigt, dass die Griechen keinen Ausstieg wollen. Jetzt warten die Leute mal ab und sehen, ob es Tsipras, weil er so ein geschickter Bursche ist, nicht doch irgendwie hinkriegt, es ins Positive zu wenden. Das halte ich für eine grandiose Illusion, aber die Masse der Griechen wird so gedacht haben. Das kann man ihnen auch nicht verübeln. Was sollen sie machen? Der Ausstieg aus dem Euro ist schließlich ein großer und riskanter Schritt. Ich glaube, dass die Griechen keiner Partei zutrauen, einen vernünftigen, geordneten Austritt ohne Katastrophe über die Bühne zu bringen – Punkt, aus.

Sie haben Anfang 2015 gefordert: Raus aus dem Euro und möglichst schnell eine informelle Parallelwährung schaffen. Und mit diesem Programm in der Hinterhand in harte Verhandlungen mit der Troika treten.

Man muss einen »Plan B« haben, um überhaupt verhandeln zu können. Das habe ich Tsipras auch schon vor zwei Jahren gesagt: Wenn du keine Waffe hast, brauchst du überhaupt nicht verhandeln. Dann kannst du dir sofort diktieren lassen, was die Troika will.

Welche Waffe wäre das?

Die Waffe ist der Ausstieg. Griechenland ist zwar klein, aber die einzige Waffe, die man bei den Verhandlungen auf den Tisch legt, ist: Wenn ihr das nicht macht, dann steige ich aus, habe einen Plan B und bin damit ein Vorbild für viele andere Länder, die es uns dann nachtun können. Das ist die einzige Drohung, die Griechenland hat.

Frankreich oder Italien sind groß und stark genug. Wenn die sagen, wir treten aus, dann kann Deutschland seinen Exportmarkt zumachen. Diese Drohung würde hierzulande sofort wirken, davon bin ich absolut überzeugt. Weil die deutsche Industrie dann nämlich sofort zur Kanzlerin geht und sagt: dass unsere Exportmärkte kaputtgehen, wirst du verhindern. Dann ändert Berlin seine Politik, hundertprozentig.

Sollte Tsipras, um den Kürzungsdiktaten zu entgehen, versuchen Kreditgeber außerhalb der EU ausfindig zu machen? Kämen Russland oder China nicht in Betracht?

Das ist unheimlich schwer. Russland ist selbst schwach. China könnte, aber macht so etwas nicht, weil es sich nicht in die Angelegenheiten anderer Länder oder Regionen einmischt. Es wird nicht wirtschaftlich in der Europäischen Union eingreifen. Es ist für China das größte Dogma im eigenen Land, dass niemand in die chinesischen Verhältnisse intervenieren darf. Das gilt für sie auch gegenüber dem Ausland, das würden sie nie tun. Wer ist denn sonst noch da?

[...]

 

Sind Tsipras jetzt die Hände gebunden, und die griechische Regierung ist erpressbar?

 

Leider denke ich, dass es zu spät ist. Jetzt kann sich Tsipras nicht mehr gegen die Kürzungsdiktate wehren.

Sie selbst haben 1998 als Staatssekretär unter dem Finanzminister Oskar Lafontaine, damals noch SPD-Mitglied, versucht einer Reform des europäischen und globalen Währungssystems den Weg zu ebnen. Eigentlich sind auch Sie damals gescheitert.

Was heißt da »eigentlich«? Wir sind gescheitert!

Sie wollten 1998 die Macht der Finanzmärkte beschneiden. Die britische Zeitung The Sun hatte aus diesem Anlass sogar eine Sonderausgabe für Lafontaine gedruckt, mit dem Titel: »Ist dies der gefährlichste Mann Europas?« Wie läuft das, wenn man sich mit den Finanzmärkten anlegt?

Das war gar nicht der entscheidende Punkt. Es herrschte damals eine günstige Konstellation vor. Der Sozialist Lionel Jospin war Premierminister in Frankreich – einer der besten, die Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Außerdem war Dominique Strauss-Kahn Wirtschafts- und Finanzminister, auch ein sehr guter Mann. Von daher waren es gute Voraussetzungen, nur machen wir uns nichts vor: Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte mit denen nichts zu tun haben. Der war damals schon der Genosse der Bosse und wollte nichts anderes werden. Das hatten Lafontaine und ich unterschätzt. Er dachte, Schröder glaubt an seine sozialdemokratischen Werte und wird sich wie ein Sozialdemokrat verhalten, wenn es hart auf hart kommt. Aber davon war überhaupt nicht die Rede. Insofern war es gar nicht die Frage der Finanzmärkte. Es war innerhalb der sogenannten Sozialdemokratie schlichtweg nicht machbar.

Sehen Sie heute überhaupt noch eine Chance, eine keynesianische Wirtschaftspolitik europaweit zu installieren?

Das ist die kritische Frage. In meinen Augen gibt es schon Möglichkeiten, der Entwicklung in den nächsten Jahren eine andere Richtung zu geben. Angesichts der Unfähigkeit der neoliberalen Agenda, die Lage zu verbessern, wäre es leicht, ein Umdenken auch politisch durchzusetzen. Wer das anstoßen könnte, ist allerdings schwer zu sagen. Frankreichs Präsident François Hollande hätte Macht und auch noch Zeit genug, um es anzustoßen. Der ist aber zu schwach. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi wird es auch nicht sein. Mir fehlen die Personen, die etwas ändern können.

Eine »neue Linkspartei« nach dem Vorbild von Syriza wird in Spanien derzeit hoch gehandelt. Zwischenzeitlich lag sie in Umfragen zu den kommenden Parlamentswahlen Ende Dezember dieses Jahres sogar vorn. Setzen Sie Hoffnungen in Podemos in Spanien?

Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, aber die werden auch nicht stark genug. Die Sozialdemokraten in Spanien sind inhaltlich so schwach wie überall. Syriza hätte theoretisch einen Anstoß geben können für andere Länder, wirklich fundamental etwas zu ändern. Sie hätten das wirtschaftspolitische Denken ändern können. Derzeit halte ich eine solche Entwicklung aber für sehr unwahrscheinlich. Dennoch wird sich etwas ändern, weil Europa aus seinen Schwierigkeiten nicht rauskommt. Es befindet sich seit 2011 in einer Dauerrezession. Das will sich die Bundesregierung in Deutschland nicht eingestehen, aber in anderen Ländern wird es sehr wohl zur Kenntnis genommen.

Wie, denken Sie, wird sich die politische Landschaft in Europa verändern?

Ändern wird sich etwas. Aber die wahrscheinlichste Variante ist jetzt, ganz realistisch gesehen, dass dies den rechten Parteien vorbehalten sein wird. Weil die Linken versagen, werden die Rechten stärker, sowohl im Norden als auch im Süden. Die wesentlichen Faktoren sind Frankreich und Italien. Im Juni 2017 findet in Frankreich die Wahl zur Nationalversammlung statt, und im Oktober wird der französische Präsident gewählt. Wenn der Front National geschickt ist und seine Mehrheit im nächsten Jahr nutzt, um Propaganda für eine alternative Politik zu machen, kann es sein, dass er nicht nur die stärkste Partei wird, sondern Marine Le Pen Präsidentin. In Italien ist es genauso. Wenn die ökonomische Lage sich nicht drastisch verbessert, könnte die Lega Nord zusammen mit Beppe Grillo bei den italienischen Parlamentswahlen 2018 eine Mehrheit kriegen. Dann ist Italien auch verloren und Europa am Ende.

In Portugal ist es immerhin den Sozialisten, Linken und Kommunisten gelungen, sich auf ein Regierungsbündnis zu einigen ...

Ja schon, aber der konservative Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva hat ihnen das Regieren untersagt. Mit der Begründung, Portugal müsse die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen des Landes gewährleisten. Die Mitgliedschaft in der NATO und der Verbleib im Euro dürften nicht zur Disposition gestellt werden. Über Alternativen zur herrschenden Wirtschaftspolitik braucht man also nicht mehr nachzudenken, weil sie in Europa sowieso keine Chance haben. Die Wahlen in Portugal zeigen jedoch eine neue Wendung. Der griechischen Linken hatte man immerhin noch eingeräumt, mit der Mehrheit in der Euro-Gruppe zu verhandeln. So weit will es der Staatspräsident in Portugal gar nicht kommen lassen. Er verfälscht die Mehrheitsverhältnisse schon vorher und droht mit den europäischen Folgen. Der nächste Schritt ist, dem Wähler schon vor der Wahl zu sagen, er solle erst gar nicht auf die Idee kommen, anders als von der Euro-Gruppe gewünscht zu votieren.

Auch in der Linkspartei in Deutschland wird über den Euro debattiert. Sie hat sich insbesondere bei den letzten Wahlen zum EU-Parlament mit Kritik vornehm zurückgehalten. Müsste sie nicht offensiver gegen den Euro auftreten?

»Gegen den Euro« hört sich komisch an. Eine realistische Betrachtung des Euro ist wichtig. Ich glaube, dass viele nicht verstehen, wie tief die Wunde ist, die Deutschland in den Euro geschnitten hat. Die denken, wenn ich ein Pflaster drauflege, dann heilt sie wieder. Doch die Wunde heilt nicht, sie wird immer größer.

Wie schwer verwundet ist der Euro?

Die Verwundung ist tödlich. Wir haben immer noch einen zwanzigprozentigen Abstand der Lohnstückkosten zwischen Deutschland und Frankreich. Das kann einfach nicht so weitergehen. Frankreich muss wirtschaftlich überleben können. Auf Dauer kann es das so nicht. Vielleicht kann es sich noch fünf Jahre so durchschleppen, aber es kann unmöglich auf die letale Lohnsenkungspolitik setzen.

Weitermachen wie bisher kann es auch nicht, weil es permanent Marktanteile gegenüber Deutschland verliert. Das ist die Verletzung, die irgendwann zum Tode führt. Und das können viele auf der Linken nicht begreifen. Die denken, ja, da ist ein Kratzer. Und auf diesen Kratzer machen wir ein Pflaster drauf, und dann ist es wieder gut, und dann machen wir wieder Euro und Europa. Das ist eine falsche Einschätzung der wirtschaftlichen Lage. Die verstehen nicht, wie dramatisch ernst die Situation in Europa ist. Wenn man das versteht, dann muss man über Alternativen nachdenken. Wenn sich an der deutschen Wirtschaftspolitik in ganz kurzer Zeit nichts ändert, kann die Wunde nur geheilt werden, wenn einige Länder aus dem Euro ausscheiden und ihre Währung abwerten.

Worin liegen die Ursachen für die gegenwärtige Dauerrezession? Sehen Sie die Krise auf die Euro-Zone beschränkt, oder handelt es sich um eine Krise des gesamten Weltmarkts?

Beides. Wir haben zwei sich überlappende Krisen, die ähnliche Ursachen haben. Es gibt eine Lohnkrise in der ganzen Welt. Wir haben die niedrigste Lohnquote und die höchste Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist eine vollständige Widerlegung des neoklassischen Paradigmas. Die neoklassischen Wirtschaftstheoretiker und die neoliberalen Politiker plappern aber immer noch gebetsmühlenartig nach, dass sinkende Löhne zu mehr Beschäftigung führen und dann auch die Wirtschaft wächst. Sie wollen die Wahrheit partout nicht zur Kenntnis nehmen. Die hohe Arbeitslosigkeit führt in Wirklichkeit dazu, dass die Unternehmer weiter Druck auf die ohnehin schon niedrigen Löhne ausüben. Das ist die Lohnkrise in der Welt, die dazu führt, dass wir nicht richtig aus der Misere rauskommen. In den USA gibt es zwar eine kleine Entspannung: Der amerikanische Aufschwung ist immerhin existent, wenngleich schwach. Aber in der EU gibt es überhaupt keinen. Doch selbst der US-Aufschwung ist nichts im Vergleich zu dem, was die USA in ähnlichen Phasen in der Vergangenheit hatten.

Was müsste sich in Deutschland ändern, damit die Euro-Krise ein Ende findet?

In Deutschland müssen über viele Jahre die Löhne steigen. Nicht nur das bisschen Reallohnsteigerung, welches die Zeitungen derzeit verkünden, das ist lächerlich. Nach der Gemeinschaftsdiagnose der Institute werden die Tariflöhne in Deutschland in diesem Jahr um 2,3 Prozent steigen. Effektiv wird es noch weniger sein. Das ist lächerlich wenig. Es ist nur real ein wenig mehr, weil die Preise im Keller sind, weil wir Deflation haben. Sich darüber zu freuen, ist wirklich absurd. Wir brauchen fünf bis sechs Prozent höhere Löhne pro Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren, dann wäre das Problem gelöst. Aber selbst die Gewerkschaften trauen sich nicht, dergleichen zu fordern. Sie sind überhaupt nicht bereit, das Problem anzusprechen und anzugehen.

In dieser Hinsicht scheinen Sie der Haltung der Linkspartei nicht zu widersprechen. Ist die Lösung also so einfach? Löhne rauf und Pflaster drauf?

Ja gut, aber das ist doch nicht hinzukriegen. Die anderen Länder brauchen eine Handlungsperspektive. Sie können nicht warten, bis sich in Deutschland die Revolution durchgesetzt hat. Das wird niemand tun. Realistisch ist vielmehr: Wenn wir die Diskussion über den Ausstieg aus dem Euro nicht eröffnen, wenn wir nicht vorbehaltlos über diese Option reden – wenigstens eines temporären, auf fünf oder zehn Jahre befristet –, dann wird diese Forderung von den Rechtsradikalen aufgegriffen. Dann ist Europa tot.