"Zersplitterung überwinden"

Ein Brief von Oskar Lafontaine an die italienische Linke

14.10.2015

"[...] Liebe Genossinnen und Genossen,

die Niederlage der von Syriza geführten griechischen Regierung gegenüber der Euro-Gruppe hat die europäische Linke mit der Frage konfrontiert, welche Möglichkeit eine von einer linken Partei geführte Regierung oder eine Regierung, an der eine linke Partei als Juniorpartner beteiligt ist, hat, im Rahmen der Europäischen Union und der europäischen Verträge eine Politik zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Rentnerinnen und Rentner und der kleinen und mittleren Betriebe zu machen. Die Antwort ist klar und brutal: Es gibt keine Möglichkeit, eine Politik zur Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung zu machen, solange die demokratisch nicht kontrollierte Europäische Zentralbank (EZB) unter dem Dach der europäischen Verträge das Bankensystem eines Landes lahmlegen kann. Es gibt keine Möglichkeit, linke Politik zu machen, wenn die klassischen Instrumente makroökonomischer Steuerung wie Zinspolitik, Wechselpolitik und eigenständige Haushaltspolitik einer Regierung mit linker Beteiligung nicht zur Verfügung stehen. Es bleiben unter den Bedingungen der europäischen Verträge nur die Lohnpolitik, die Sozialpolitik und die Arbeitsmarktpolitik, um unter dem Dach des Euro die relative Wettbewerbsposition des eigenen Landes zu verbessern. Wenn die stärkste Volkswirtschaft – die deutsche – in einer Währungsunion Lohndumping betreibt, bleiben den anderen Mitgliedsländern nur Lohnsenkung, Sozialkürzung und der Abbau von Arbeitnehmerrechten, um im Sinne der neoliberalen Ideologie in der Konkurrenz der Länder zu bestehen. Wenn die dominierende Volkswirtschaft zudem noch die niedrigsten realen Zinsen und eine unterbewertete Währung hat, dann haben die europäischen Nachbarn praktisch keine Chance mehr. Die Industrie der anderen Länder verliert dann immer mehr Anteile auf dem europäischen und dem außereuropäischen Markt.

[...]

Die italienische Linke ist heute nötiger denn je. Trotz der Marktanteilsverluste mag die Zunahme der Arbeitslosigkeit sowie der prekären Beschäftigung und die daraus folgende Lohndrückerei im kurzsichtigen Interesse italienischer Konzerne sein, aber die italienische Linke darf dieser Deindustrialisierung nicht weiter zusehen. Die Entwicklung in Griechenland und in Spanien, in Deutschland und in Frankreich zeigt, dass eine Zersplitterung der Linken nicht lediglich durch eine Neugründung oder durch ein Zusammengehen bestehender linker Parteien überwunden werden kann, sondern darüber hinaus die Begegnung mit neuen Kräften jenseits des traditionellen Parteienspektrums erfordert. Nur wenn die Linke in den jeweiligen Nationalstaaten eine ausreichende Stärke erreicht, kann sie die europäische Politik verändern. Die europäische Linke braucht gerade jetzt eine starke linke Kraft in Italien.

Ich grüße Euch herzlich aus Deutschland und wünsche Euch beim Aufbau einer neuen Linken in Italien viel Erfolg. [...]"

Der komplette Brief erschien am 14.10.15 in der junge Welt und ist online abrufbar, sowie zeitgleich in der italienischen Zeitung il manifesto.

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