Zeit: "Ich bin ein Workaholic und jetzt gehe ich auf Entzug"

Ein Interview mit Fabio De Masi

05.07.2021

Zeit: "Ich bin ein Workaholic und jetzt gehe ich auf Entzug"[1]

 

 

"Fabio De Masi ist der bekannteste und profilierteste Finanz- und Wirtschaftspolitiker der Partei Die Linke im Bundestag. Nach nur einer Legislaturperiode gab der 41-Jährige Anfang des Jahres überraschend bekannt, nicht wieder kandidieren zu wollen. Hier spricht er über Nachtsitzungen des Wirecard-Ausschusses, seinen Sohn und warum die Linke es so schwer hat, Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. 

ZEIT ONLINE: Herr De Masi, Sie ziehen sich freiwillig aus der Politik zurück. Was werden Sie am meisten vermissen? 

Fabio De Masi: Ich werde schon ein wenig wehmütig sein. Die Redeschlachten im Bundestag, der Austausch mit Abgeordneten aus anderen Fraktionen, das werde ich vermissen. Politik ist wie eine Droge, sie macht süchtig. (...)

ZEIT ONLINE: Warum hören Sie auf? 

De Masi: Ich habe gerne und viel gearbeitet. Aber Politik ist ein Mannschaftssport und meine Partei hat zu wenig Steilpässe verwandelt. Nehmen Sie allein das vergangene Jahr: Ich saß in dieser irren Corona-Zeit bis vier Uhr morgens im Bundestagsausschuss zu Wirecard – und dann ging es um neun Uhr weiter. Die anderen Fraktionen konnten sich ablösen, ich war ein Einzelkämpfer. Irgendwann war klar: Ich muss die Notbremse ziehen. Mein Sohn ist jetzt zwölf, ich finde es toll, noch mal mehr Zeit mit ihm zu verbringen. 

ZEIT ONLINE: Würde Sie ihm guten Gewissens empfehlen, Politiker zu werden? 

De Masi: Darauf hat er sicher keine Lust. Mein Sohn bemitleidet mich eher. Ein Fahrer des Bundestages sagte mir einmal: Er würde niemals mit mir tauschen wollen – lieber sei er mit seinen Söhnen draußen und schraube am Boot herum. Darüber habe ich sehr lange nachgedacht. Viele Politikerinnen und Politiker sind irgendwann einsam. 

ZEIT ONLINE: Weil sie so viel arbeiten? 

De Masi: Viele Menschen müssen hart arbeiten. Unser Job ist ein Privileg. Aber man muss aufpassen: Politik ist oft völlig entgrenzt. Familien und Freundeskreise gehen kaputt. Ich spiele im Fußballteam des FC Bundestags und habe mit vielen Kollegen aus der Union ein herzliches Verhältnis. Die wirklich persönlichen Gespräche finden nur dort statt. In einem geschützten Raum, wo es nicht um den politischen Wettbewerb geht. (...)

ZEIT ONLINE: Sie sind sehr aktiv in den sozialen Netzwerken – auf Twitter beispielsweise. Wie hat das Ihre Arbeit als Politiker verändert? 

De Masi: In Deutschland ist Twitter ein Medium, das sehr stark von Journalisten genutzt wird. Dem kann ich mich nicht entziehen. Mittlerweile landen meine Tweets öfters auch mal in der Presse. Ich kann schnell reagieren. Das ist schon nützlich. Aber Twitter hat mit dem echten Leben nichts zu tun. 

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit? 

De Masi: Twitter ist ein soziales Netzwerk der Eliten. Man wird von seinen eigenen Hooligans mit Herzchen belohnt und denkt, das sei die Realität. Die Mehrheit der Bevölkerung kann mit den Debatten auf Twitter aber wenig anfangen. 

ZEIT ONLINE: Mit welcher Folge? 

De Masi: In den sozialen Medien wirst du belohnt, auf irgendeiner Empörungswelle zu reiten und Gräben zu vertiefen, statt Probleme zu lösen. Mir ist wichtig, dass wir die Fähigkeit erhalten, über das eigene Milieu hinaus im Meinungsstreit zu überzeugen. Das ist auf Twitter nicht möglich. (...)

ZEIT ONLINE: Die Linke hat in den vergangenen Wahlen einiges an Stimmen verloren – gerade in Ostdeutschland. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? 

De Masi: In den ersten Jahren der Linken haben sich noch viele Menschen in der Partei engagiert, die aus der Arbeitswelt und den Gewerkschaften kamen. Und als ich vor sieben Jahren ins Europaparlament eingezogen bin, haben ökonomische Fragen eine zentrale Rolle gespielt. Die Finanzkrise, klassische Kapitalismuskritik eben. Das ist heute anders, wir diskutieren stärker über kulturelle Themen. 

ZEIT ONLINE: Das ist aus Ihrer Sicht falsch? 

De Masi: Wir haben zwar neue Wählerinnen gewonnen, aber bei unserer traditionellen Wählerbasis verloren. In Großstädten mag dieser Shift noch funktionieren, aber in weiten Teilen Ostdeutschlands und auf dem Land reicht das eben nicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Früher wurden wir im Osten auch von Menschen gewählt, die nicht immer jede Position in der Zuwanderungs- oder Gesellschaftspolitik geteilt haben. Es gab aber genug andere Positionen, denen sie zugestimmt haben. Sie fühlten sich von der Linken vertreten, weil sie der Ansicht waren: Sie teilt einen großen Teil unserer Lebenswirklichkeit. 

ZEIT ONLINE: Wie kann die Linke aus ihrer Krise kommen? 

De Masi: Es geht nicht nur um die Linke, auch die SPD. Wir müssen gemeinsam drei, vier politische Projekte finden, die Menschen Sicherheit und Aufstieg vermitteln. Wir reden immer über Rot-Rot-Grün und Regierungsbündnisse, aber das interessiert den Taxifahrer doch nicht. Der will wissen, ob er künftig noch seine Miete zahlen kann oder von Uber plattgemacht wird. Die Corona-Krise zeigt, dass wir einen Staat brauchen, der in einer Krise funktioniert und Masken oder Impfstoffe nicht allein dem Markt überlässt. Es ist doch verrückt, dass wir fast zwei Jahre nach der Pandemie im Fußballstadion saufen, aber unsere Kinder in den Schulen im Stich lassen. (...)

ZEIT ONLINE: Warum sind Sie nur so schwer mit Ihren Themen bei den Linken durchgedrungen? 

De Masi: Das sehe ich anders. Das bin ich. Allerdings hat das zu einer ungesunden Arbeitsteilung geführt. Ich mache Wirtschaft. Die anderen kümmern sich um Weltpolitik und Identitätsfragen. Auch die sind wichtig. 

ZEIT ONLINE: Das klingt wie ein unausgesprochenes Aber… 

De Masi: Wir müssen Gemeinsamkeiten betonen und nicht nur über Unterschiede reden. Davon profitiert am Ende nur die Rechte. In den USA versuchte Donald Trump mit Kulturkämpfen davon abzulenken, dass er Politik für die oberen ein Prozent machte. Jeder Mensch hat ganz viele Identitäten, sexuelle, religiöse, kulturelle, politische. Die überlagern sich. Wenn Menschen aber nur noch über einzelne davon definiert werden, verlieren wir die Gemeinsamkeiten. Amazon feiert sich in Werbevideos für seine Diversität, aber bekämpft schwarze Arbeiter, die Gewerkschaften gründen wollen. 

ZEIT ONLINE: Linke Parteien sollten sich mehr mit Klasse statt mit Identität beschäftigen? 

De Masi: Einige werden jetzt sagen: Man kann das ein tun, ohne das andere zu lassen. Das stimmt. Natürlich kann ich auf Twitter den Kampf um Sonderzeichen gewinnen. Sprache ist wichtig. Aber sie darf auch nicht so komplex werden, dass sie die Schichtarbeiterin ausgrenzt, die nicht weiß, wie sie ihre Kinder während Corona betreuen soll. Sonst hat sich im Leben von Millionen Menschen nichts verbessert. Etwas mehr Gelassenheit und gesunder Menschenverstand wären gut."

 

Lesen Sie das ganze Interview auf Zeit.de[2]

Links:

  1. https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-07/fabio-de-masi-linke-bundestag-rueckzug-politiker-beruf-finanzpolitik
  2. https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-07/fabio-de-masi-linke-bundestag-rueckzug-politiker-beruf-finanzpolitik