FAZ: Milde Strafen im Cum-Ex-Prozess in Aussicht

Wegen des Coronavirus ist auf einmal große Eile geboten. Die Ankläger fordern Bewährungsstrafen. Eine Presseschau mit Fabio De Masi

19.03.2020
Presseschau

FAZ: Milde Strafen im Cum-Ex-Prozess in Aussicht

19.3.2020, Seite 27

"Ein Jahr und zehn Monate für Martin S., zehn Monate für Nicholas D. wegen schwerer Steuerhinterziehung in mehreren Fällen: Mit diesen äußerst milden Schlussanträgen startete Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker in den vermutlich letzten Tag des vielbeachteten Pilotprozesses zu den umstrittenen Aktiengeschäften rund um den Dividendenstichtag ("Cum-Ex"). "Man kann nicht Einzelne als Sündenbock hinstellen und stellvertretend für andere bestrafen", erläuterte Anklägerin Brorhilker in ihrem Plädoyer. Die beiden britischen Börsenhändler seien lediglich zwei unter Hunderten von Akteuren, die gemeinsam einen großen Steuerschaden verursacht hätten. Ein Urteil und damit auch die Anordnung einer Einziehung von Vermögen der Privatbank M.M. Warburg wurde noch für den Mittwochabend erwartet.

In den vergangenen Tagen war der Strafprozess unter größtmöglicher Eile aller Beteiligten und unter erschwerten Bedingungen durch die Corona-Epidemie durchgezogen worden. Zu groß war offenbar auch die Sorge der 12. Großen Strafkammer unter Vorsitz von Roland Zickler, dass sich ein Mitglied des Spruchkörpers oder einer der anderen Prozessbeteiligten mit dem Virus anstecken könnte. Denn: Eine Unterbrechung, möglicherweise über Monate hinweg, bedeutet nach aktueller Gesetzeslage eine Neuauflage für das mit viel Aufwand betriebene Strafverfahren.

Der Bonner Strafprozess gilt als Blaupause für weitere Anklagen, insbesondere weil er wegweisend ist für eine Einziehung von Vermögen bei Banken und Brokern, die aus den Aktiengeschäften Gewinne erzielt haben. Von September 2019 an mussten sich S. und D., zwei frühere Börsenhändler der Hypo-Vereinsbank und später für die Ballance-Gruppe aktiv, wegen schwerer Steuerhinterziehung in 33 Fällen verantworten. Durch ihre Mitwirkung an den umstrittenen Aktiengeschäften, bei denen eine lediglich einmal angefallene Kapitalertragsteuer mehrfach von den deutschen Finanzbehörden zurückerstattet wurde, soll in den Jahren von 2006 bis 2011 ein Schaden von rund 400 Millionen Euro entstanden sein. (...)

Rechtsanwältin Schilling appellierte an die Milde des Gerichts. Ihr Mandant - der im Gerichtssaal umfassend zu den Funktionsweisen und beteiligten Banken, Brokern und Anwälten ausgesagt hatte - habe eine Lektion gelernt. "Er bedauert sein Verhalten und hat glaubhaft gemacht, dass er mit dem Wissen von heute nicht mehr Teil der Cum-Ex-Industrie werden würde." Schon im Prozess hatte S. die Rückzahlung des Geldes angekündigt, das er während seiner Zeit bei der HVB und Ballance verdient hatte. In seinem Schlussantrag verwies Strafverteidiger Kirsch darauf, dass die umfassenden Aussagen seines Mandanten ebenfalls strafmildernd anzuerkennen seien. Ohnehin habe D., der lediglich Angestellter war, schon massive psychische und wirtschaftliche Belastungen zu tragen. "Er wird in die Geschichte eingehen als eines der Gesichter von Cum-Ex", sagte der Anwalt. So sei es fast unmöglich, beruflich wieder Fuß zu fassen oder "nur ein Girokonto zu eröffnen". Gerhard Schick, einst für die Grünen Obmann im Cum-Ex-Untersuchungssausschuss und nun Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende, reagierte ungläubig auf die Schlussanträge aus Bonn. "Nur Bewährungsstrafen für Cum-Ex-Trader? Schwer auszuhalten, aber die Staatsanwaltschaft muss natürlich die umfangreiche Kooperation der Angeklagten berücksichtigen", schrieb Schick auf Twitter. In Erwartung des Urteils sagte Fabio De Masi, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, der F.A.Z., dass es ein Verdienst mutiger Staatsanwälte und Richter sei, dass über die Vermögensabschöpfung und den Strafprozess wieder ein Stück Gerechtigkeit hergestellt werde. Dabei würden hoffentlich auch Haftstrafen erwogen. "Cum-Ex-Gangster gehören hinter schwedische Gardinen", sagte De Masi. Richter Roland Zicker hatte sich schon vor Monaten auf eine mögliche Strafbarkeit der angeklagten Taten festgelegt. "Das geht steuerrechtlich nicht, was da gelaufen ist", adressierte er im Dezember in Richtung der beiden Angeklagten."