Freitag-Interview: „Die sind doch bekloppt“

Fabio De Masi über die Machtkämpfe in der Linken, die GroKo, Flüchtlingspolitik und die Zukunft der EU.

30.11.2017
Karin Desmarowitz/DIE LINKE Hamburg

30. November 2017, der Freitag Ausgabe 48/2017, Sebastian Puschner: „Die sind doch bekloppt“[1]

 

der Freitag: Herr De Masi, sind Sie froh, dass es nun wohl kaum zu Neuwahlen kommen wird und die Linke Zeit für die Beilegung eigener Konflikte bekommt?

Fabio De Masi: Nein, ich kann die Große Koalition nicht mehr sehen. Unsere Aufgabe ist es, so schnell wie möglich die sozialen Verhältnisse zu verändern. Und wenn uns eine Wahl die Chance dazu gibt, müssen wir sie nutzen. Aber klar, Neuwahlen würden die Linke fordern. Denn im Gegensatz zu FDP, AfD, Union, SPD und Grünen erhalten wir keine üppigen Parteispenden von Konzernen. Und Wahlen machen nur einen Sinn, wenn es eine echte Wahl gibt. Dazu müsste sich die SPD erneuern. Das ist bisher nicht zu erkennen.

Neulinge in der Linken-Fraktion, so ist zu hören, waren geschockt, wie erbittert dort Rivalitäten und Streit ausgetragen werden.

Ich war nicht geschockt, aber ich verstehe, wenn viele sagen: Die sind doch bekloppt. Wir müssen die inhaltlichen Debatten auch führen – wenn es dabei nicht nur um Machtspiele geht.

Hinter den Konflikten stehen die Verluste der Linken auf dem Land, gerade im Osten, und die Zugewinne in den Städten.

Es ist falsch, junge urbane Milieus gegen Arbeiter und Arbeitslose auszuspielen. Als wir zu Zeiten Oskar Lafontaines und Gregor Gysis in den Umfragen bei 15 Prozent lagen, da waren wir in den beiden Milieus stark. Ich freue mich über jeden jungen Menschen, der in die Linke eintritt. Was aber passiert, wenn dann jemand einmal seine Penthouse-Wohnung hat, lässt sich an den Grünen beobachten, die soziale Probleme nicht mehr interessieren. Und wenn wir nun bei Arbeitslosen einbüßen, bei Arbeitern nah an die Werte der FDP rücken, dann ist das ein Problem. Wir müssen versuchen, diese Leute zurückzugewinnen. Die Frage ist: Haben wir noch eine Sprache, die mit dem Alltag dieser Menschen zu tun hat?

Wer hat diese Sprache denn noch eher, der Vorstand der Partei oder der der Fraktion?

Sahra Wagenknecht ist unsere populärste Politikerin. Das ist Fakt. Wer meint, sie loswerden zu müssen, kann das tun, befindet sich dann aber schnell nicht mehr im Bundestag.

Hat die Linke Fehler in Bezug auf die Flüchtlingspolitik gemacht?

Wir sind die Fluchtverhinderungspartei, weil wir Fluchtursachen wie Regime-Change-Kriege und unfaire Handelspolitik bekämpfen. Und wir wollen, dass der Staat sich um die, die hier sind, kümmert. Nicht, dass er sich billige Arbeitskräfte für Unternehmen holt, um den Rest ins Industriegebiet zu schicken. Das ist asozial, ein Geschäft mit der Not. Bei G20 hatten wir in Hamburg ja Berliner Polizisten, die waren für zwei Tage in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht – und haben Party gemacht, weil es so trostlos war.

Braucht es linke Flüchtlings- und Einwanderungsgesetze, wie das Linken-Abgeordnete aus ostdeutschen Landtagen fordern?

Nein, ein Einwanderungsgesetz fordern der Bundesverband der Deutschen Industrie, FDP, Grüne, SPD und AfD. Warum müssen wir gezielt Fachkräfte abwerben? Was wir brauchen, ist ein echtes Integrationsgesetz, um den Leuten, die hier sind, Perspektiven zu geben. Einen starken, mitfühlenden Staat. Wir wollen das Asylrecht verteidigen, da gibt es keinerlei Dissens. Aber eine Forderung nach offenen Grenzen für alle hilft uns nicht.

Warum nicht?

Weil es das Asylrecht schwächt. Wir müssen unsere Ressourcen auf Menschen in Not konzentrieren. Und der Staat muss auch wissen, wer ins Land kommt, um seine Pflicht gegenüber Menschen zu erfüllen. Schutzlose Minderjährige etwa müssen zur Schule, in den Sportverein und Deutsch lernen. Wenn Menschen Staatsversagen als Kontrollverlust empfinden, dann sollte ich ihnen nicht gleich die Rassismus-Keule über den Kopf ziehen, sondern zuhören. Reden. Gespräche an Info-Ständen laufen besser, wenn ich zuhöre.Und wenn ich frage: Dass der Syrer gegenüber eine Wohnung hat – wäre das noch ein Problem, wenn dein Lohn doppelt oder deine Miete halb so hoch wäre? Dann antworten die meisten mit Nein und sprechen über ihre Probleme, nicht über Flüchtlinge.

Unter Umständen geht das also, mit den offenen Grenzen für alle?

Nein. Offene Arme für Menschen in Not sind richtig. Die Mehrheit der Menschen will eine sichere Heimat und nicht in Deutschland leben. So schön ist unser Wetter auch nicht. Ich höre auch Leute in der Linken sagen, der Sozialstaat ginge nicht mehr national. Aber die denken das gar nicht zu Ende. Das heißt dann: kein Sozialstaat, denn der finanziert sich aus Steuern und Abgaben. Soll Deutschland die überall auf der Welt erheben? Wir müssen bei denen sein, die von ihrer Arbeit leben müssen – ganz egal, wo jemand herkommt. Eine Welt offener Grenzen für alle heißt auch offene Grenzen für alles. Für Geld oder Waffen. Das wird uns um die Ohren fliegen.

Um die Ohren fliegt uns langsam schon die EU. Sind da die Pläne Macrons nicht noch die bestmögliche Perspektive, die Europa hat?

Nein. Und Macron ist kein guter Europäer. Er will eine Agenda 2010 wie hierzulande, Löhne drücken, Gewerkschaften schwächen – und wofür? Für einen europäischen Finanzminister, der etwas Taschengeld verteilt, sonst aber kürzt, bis es kracht. Das ist Prostitution: Erst strippe ich, dann kriege ich dafür ein paar Euro. Merkel, Deutschlands Exportüberschüssen, dem Wirtschaftsnationalismus die Stirn zu bieten, traut er sich nicht.

Für eine Transfer-Union würde er auch kaum Mehrheiten finden.

Das würde auch gar nicht funktionieren, die Eurozone ist so heterogen, die Lohnverhandlungs- und Sozialversicherungssysteme sind so unterschiedlich, dass es dafür sieben bis zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts bräuchte. In Deutschland wären das zwei Drittel des Haushalts. Und die gäbe es nicht obendrauf. Die würden an anderer Stelle gekürzt, Paris und Rom würden aus Berlin regiert.

Es könnte ja zunächst mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung losgehen.

Der Präsident der französischen Zentralbank sagte mir einst, er sei dafür. Und er sagte auch, warum: Diese Versicherung wäre niedriger als in manchen Ländern, und dann gäbe es einen Wettbewerb der Sozialsysteme. Vom portugiesischen Arbeitslosen würde dann erwartet, dass er für eine Stelle auch nach Deutschland kommt. Die Versicherung diente dann zur Arbeitssuche. Die Arbeitgeber wollen, dass die Leute Jobs nachwandern, statt Vollbeschäftigung. Aber Menschen sind keine Amazon-Pakete. Sie haben soziale Nahbeziehungen.

Brauchen wir also nicht mehr, sondern weniger Europa?

Ich bin sofort für europäische Mindeststeuern für Konzerne, für ein öffentliches EU-weites Investitionsprogramm und dafür, dass die EZB Investitionen finanziert, statt wie heute Geld in die Finanzmärkte zu pumpen. Aber ich würde der EU-Kommission ungern die Kompetenz über die Beschäftigungs- und Sozialpolitik geben, denn dann wäre morgen das Streikrecht weg. Wenn wir per Scheckbuch verankern, dass Berlin und Brüssel die anderen Staaten regieren, dann werden die Marine Le Pens noch stärker. Ich will ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa. Auch Nationalstaaten bleiben dabei für demokratische Politik wichtig.

Wofür konkret?

In der Steuerpolitik etwa. Denn eine europäische Mindeststeuer für Konzerne braucht die Zustimmung aller 28 EU-Mitgliedsstaaten. Wir können aber in Deutschland sofort eine Quellensteuer auf Dividenden und Lizenzgebühren erheben, die sonst unversteuert in Steueroasen abfließen. Aber die deutsche Regierung bremst Fortschritte auf EU-Ebene: etwa ein öffentliches Register der Eigentümer von Firmen und Stiftungen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, für das Frankreich, Portugal oder Spanien sind.

Im Gegensatz zu Deutschland.

Ja, die Bundesregierung verhindert das, mit Großbritannien. Bei der öffentlichen Berichtspflicht von Konzernen über Gewinne und gezahlte Steuern in jedem Land, ist es genauso. Das ist Beihilfe zu Steuerflucht und organisierter Kriminalität! Als es neulich im Bundestag darum ging, dass Irland zwar bessere Kreditkonditionen will, sich aber weigert, Steuern von Apple einzutreiben, da meinte Finanzminister Peter Altmaier: Nee, da kann man nix machen. Nun sind wir ja sehr für Erleichterungen bei den Zinsen für Irland. Aber das Eintreiben von Steuern kann man angeblich nicht von ihnen verlangen. Privatisierungen und Lohnkürzungen dagegen schon? Wie eine Eins standen die Grünen hinter der Union! Hätte nur noch gefehlt, dass Altmaier mit Claudia Roth Walzer im Plenarsaal tanzt.

Und Martin Schulz ist einer, der da jederzeit mittanzen würde? Oder doch jemand, der die SPD erneuern könnte, den der Parteiapparat aber davon abhält?

Hätte er vor der Wahl Mehrheiten genutzt und drei, vier zentrale Projekte wie die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung mit der Linken und den Grünen umgesetzt, hätte er sie gezwungen, sich zu Merkel oder zu sozialer Verantwortung zu bekennen. Die Große Koalition wäre geplatzt, Schulz hätte die in ihn gesetzten Hoffnungen bestärkt und auf dem Höhepunkt seiner Umfragen Neuwahlen erzwungen. Er hätte die Themen diktiert und eine Chance gehabt, die Wahl zu gewinnen. Regieren und auf Opposition zu machen, das geht so wenig, wie halbschwanger zu sein. Aber bis heute will die SPD halbschwanger sein.

Rot-Rot-Grün, eine ewige Utopie?

Wir wollen regieren. Aber um die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu verändern, nicht um uns ein paar Dienstwagen zu gönnen. Wer erfolgreich regieren will, muss auch Nein sagen können. Der FDP gesteht man das zu. Warum nicht der Linken?"

Links:

  1. https://www.freitag.de/autoren/sebastianpuschner/die-sind-doch-bekloppt