Die Mitbestimmung vor dem EuGH: Die Rolle der Kommission

Martin Höpner berichtet auf Makroskop über die Rolle der Kommission beim TUI-Fall

17.12.2016

Der Artikel von Martin Höpner erschien auf dem wissenschaftlichen Blog Makroskop.

Der Kampf gegen die Mitbestimmung im nationalen Rahmen ist nicht neu. Jetzt aber erkennen ihre Feinde im Europarecht ein Instrument, diesen Kampf doch noch zu gewinnen. Die EU-Kommission spielt dabei eine unrühmliche Rolle.

Makroskop gehörte zu den ersten Zeitschriften und Blogs, die auf das bevorstehende Mitbestimmungsurteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und auf die auf diesen Vorgang bezogene Eingabe der Europäischen Kommission aufmerksam gemacht haben (hier und hier). Nachdem es hierum lange erstaunlich ruhig war, hat nunmehr eine öffentliche Debatte eingesetzt. Die Angriffe auf die Unternehmensmitbestimmung waren Thema auf mehreren gewerkschaftlichen oder gewerkschaftsnahen Kongressen, etwa auf einer großen, von der Hans Böckler Stiftung und der luxemburgischen Arbeitnehmerkammer veranstalteten Expertentagung Ende September in Luxemburg (ein Bericht findet sich hier). Der DGB, mehrere Einzelgewerkschaften und die Hans Böckler Stiftung haben in einer Reihe von Newslettern und weiteren Publikationen informiert. In einem gemeinsamen Artikel, der im Handelsblatt vom 27. September erschien (hier), wandten sich der DGB-Vorsitzende Rainer Hofmann und der BDA-Vorsitzende Ingo Kramer gegen die Behauptung, die Unternehmensmitbestimmung verletze europäisches Recht. Es war sicher nicht leicht, diese gemeinsame Stellungnahme der Sozialpartner auf die Beine zu stellen.

Und längst nicht mehr nur die Gewerkschaften interessieren sich für das Thema. Mehrere Zeitungen berichteten (siehe etwa die Süddeutsche Zeitung hier). Die Linksfraktion im Deutschen Bundestag forderte die Bundesregierung im Rahmen einer so genannten Kleinen Anfrage auf, politischen Druck auf die Kommission auszuüben, damit diese ihre Stellungnahme in der auf den 24. Januar terminierten mündlichen Verhandlung vor dem EuGH zurücknimmt (hier nachzulesen). Die Kabarettisten der ZDF-Sendung „Die Anstalt“ behandelten die Rechtsprechung des EuGH am Beispiel der Klage gegen die Mitbestimmung in einem großartigen Sketch. Alle, die das noch nicht gesehen haben, kann ich nur ermuntern, sich dieses köstliche Stück anzuschauen (ab Min. 41:30 hier).

In den vergangenen Wochen hatte ich vielfach Gelegenheit, mich mit Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen über die Vorgänge auszutauschen. Dabei stelle ich – auch bei jenen, die nicht direkt mit den Vorgängen betraut sind – ein hohes Maß an Informiertheit, viel Interesse und noch mehr berechtigte Beunruhigung fest. Ebenso fiel mir aber auf, dass sich einige Missverständnisse, insbesondere im Hinblick auf das Vorgehen der Kommission, systematisch durch die Debatte ziehen. Sie treten immer wieder auf, auch an Stellen, wo man sie am wenigsten erwarten würde. Mit diesem Beitrag möchte ich vor der Verfestigung einiger Fehleinschätzungen warnen.

Wirkungslose Eingabe der Kommission?

Wiederholt habe ich die Einschätzung gehört, die Eingaben der Kommission machten für den EuGH keinen Unterschied. Die Stellungnahme, in der die Kommission die Europarechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmung bejaht, sei daher ärgerlich, für den Gang der Dinge aber nicht weiter von Belang. Der Forschungsstand zeigt allerdings, dass das Gegenteil der Fall ist: Der EuGH folgt überzufällig häufig den Eingaben der Kommission. Den Nachweis führt der Politikwissenschaftler Michael Malecki in Ausgabe 1/2012 des Journal of European Public Policy (hier). Malecki hat einen Datensatz von gut 1500 Streitfällen vor dem EuGH untersucht, bei denen die Kommission eine Stellungnahme abgegeben hatte. Der Datensatz besteht ausschließlich aus so genannten Vorabentscheidungsverfahren, also Vorlagefragen von nationalen Gerichten (um so ein Verfahren handelt es sich auch bei dem Erzberger-Fall; Erzberger ist der klagende TUI-Aktionär). Wie sich zeigt, folgte der EuGH in 75% der Fälle den Eingaben der Kommission.

Jüngst hat eine Gruppe von Juristen und Politikwissenschaftlern am Swedish Institute for European Policy Studies eine ähnliche Untersuchung durchgeführt und die Ergebnisse in einem Working Paper veröffentlicht (hier). Auch diese Forschergruppe hat Vorabentscheidungsverfahren untersucht. Ihr Datensatz hat mit knapp 1600 Fällen eine ähnliche Größe wie der von Malecki. Auch die Stockholmer Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass der EuGH überzufällig häufig der Kommission folgt. Hier wird die Erfolgsquote der Kommission mit 60% beziffert. Wenn wir nun die Unschärfen solcher Untersuchungen in Rechnung stellen und annehmen, dass sich die „wahre“ Erfolgsquote irgendwo zwischen 60% und 75% ansiedeln dürfte, dann führt uns das zu dem Ergebnis, dass der EuGH in ungefähr zwei Drittel der Fälle der Kommission folgt.

Die Eingabe der Kommission ist also nicht nur ärgerlich – sie erhöht auch die Chance, vor dem EuGH zu verlieren. Entsprechend wirkungsvoll wäre es, würde die Kommission ihre Stellungnahme in der von Deutschland beantragten mündlichen Verhandlung förmlich zurücknehmen. Die Kommission will eine politische Kommission sein und ist für politischen Druck bekanntermaßen empfänglich.

Sind nicht Kommission und EuGH, sondern die Kläger das Problem?

Einige der an der Debatte Beteiligten sprechen sich dafür aus, die Kritik auf den Kläger im deutschen Ausgangsverfahren sowie auf das Gericht zu konzentrieren, das dem EuGH den Fall vorgelegt hat (es handelt sich um das Berliner Kammergericht). Die Kommission habe sich in ihrer Stellungnahme hingegen lediglich an den aus Deutschland erhaltenen Schriftstücken orientiert und der EuGH habe den Fall natürlich annehmen müssen.

Freilich ist das Vorgehen des Klägers und des vorlegenden Gerichts kritikwürdig. Die Fokussierung auf sie verstellt aber den Blick auf das, was vor sich geht. Denn dass es in Deutschland erbitterte Gegner der Mitbestimmung gibt, ist nichts Neues. Diese Gegnerschaft zieht sich durch die gesamte Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Schon die Montanmitbestimmung war nicht im Konsens zu haben. Einen Höhepunkt erreichten die Anfeindungen im Zuge der Auseinandersetzungen um das Mitbestimmungsgesetz von 1976 und um die nach seiner Verabschiedung beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Arbeitgeberklage. In den frühen 2000er Jahren lebte die Debatte dann noch einmal auf (siehe dazu hier) und mündete in die Gründung der Biedenkopf-Kommission, deren Mitglieder sich nicht auf gemeinsam getragene Reformempfehlungen einigen konnten (siehe den Abschlussbericht der wissenschaftlichen Kommissionsmitglieder hier).

Das alles ist also nicht neu. Neu ist vielmehr, dass die Feinde der Mitbestimmung nunmehr im Europarecht ein Instrument erkennen, einen Kampf doch noch zu gewinnen, den sie im nationalen Rahmen immer wieder verloren. Man beachte, dass es sowohl die Grundfreiheiten als auch das Diskriminierungsverbot, mit dem die Mitbestimmung nach Meinung von Kläger und Kommission kollidiert, in den Verträgen ja schon lange gab. Noch zu Zeiten der Biedenkopf-Kommission, deren Arbeit ich seinerzeit beobachten durfte, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, die Mitbestimmung ließe sich unter Verweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aushebeln. Die Variable im Spiel ist nicht die Anzahl der Gegner, sondern vielmehr die immer extensivere Ausdeutung der etwaig kollidierenden primärrechtlichen Grundsätze durch Kommission und EuGH. Das Europarecht muss man in diesem Spiel als in Veränderung begriffene Opportunitätsstruktur begreifen, die die inländischen Kräfteverhältnisse umstrukturiert, indem sie die Befürworter von Liberalisierung mit neuen Waffen ausstattet (Daniel Seikel zeigt das in diesem Buch eindrücklich am Beispiel des Kampfs um das öffentlich-rechtliche Bankenwesen).

Alle mitgliedstaatlichen Institutionen und Praktiken mit marktbeschränkender Wirkung lassen sich, sofern sie transnationale Wirkungen entfalten, als Beschränkungen der Grundfreiheiten interpretieren und werden daher vor dem EuGH rechtfertigungsbedürftig. Die soziale Marktwirtschaft aber ist nichts anderes als ein Geflecht genau solcher Institutionen und Praktiken. Der Hinweis auf die in der Tat umtriebigen Kläger droht daher von dem entscheidenden Punkt abzulenken: Dass es einer kritischen Debatte um die extensive Ausdeutung der Grundfreiheiten und des Wettbewerbsrechts durch Kommission und EuGH bedarf und dass der vorliegende schwerliegende Fall lediglich Ausdruck einer tieferliegenden, von den supranationalen Organen herbeigeführten Kollision ist.

Ist selbst der größte anzunehmende Unfall letztlich überschaubar?

Es fällt schwer, eine Prognose über den Ausgang des Verfahrens abzugeben. Einerseits erscheinen die Argumente des Klägers und der Kommission einfach zu abwegig. Andererseits überraschte der EuGH immer wieder, wenn es darum ging, mitgliedstaatliche Regularien unter Verweis auf europäisch geschützte Individualrechte außer Kraft zu setzen. So oder so muss man durchdenken, was eigentlich schlimmstenfalls geschehen könnte.

Schlimmstenfalls würde der EuGH dem deutschen Gesetzgeber aufgeben, die beanstandete Diskriminierung und/oder die beanstandete Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit abzustellen. Was für Implikationen hätte das? Einer Sichtweise zufolge müsste der Gesetzgeber eine Rechtsanpassung dahingehend vornehmen, dass ausländische Konzernteile die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat mitwählen können, ansonsten aber der status quo antewiederhergestellt ist. Die Frage ist nur, ob der deutsche Gesetzgeber hierzu überhaupt befugt wäre. In Ausgabe 20/2016 der Juristen-Zeitung (hier) macht der Berliner Rechtswissenschaftler Florian Rödl erhebliche Zweifel an dieser optimistischen Deutung des größten anzunehmenden Unfalls geltend.

Denn selbst wenn man eine entsprechende Rechtssetzungsgewalt der Bundesrepublik bejaht, fehlen die Rechtsprechungsgewalt und die Rechtsdurchsetzungsgewalt. Diese enden definitiv an den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland. Eine Verhängung von Zwangsgeldern bei nicht ordnungsgemäß durchgeführten Wahlen der Arbeitnehmerbänke etwa wäre nicht möglich. Eine transnationale Ausdehnung der Mitbestimmungsgesetze, so Rödl, wäre also zwar möglich, stünde in der Praxis aber nur auf dem Papier. Wenn nun der deutsche Gesetzgeber auf die korrekte Durchführung der Wahlen in ausländischen Konzernteilen und damit auf die ordnungsgemäße Zusammensetzung der Aufsichtsräte nicht effektiv hinwirken kann, steht am Ende genau das, was der Kläger (und mittelbar: das vorlegende Gericht und die Kommission) bezwecken: die Abstellung der behaupteten Kollision durch Entfernung der Arbeitnehmervertreter aus den Aufsichtsräten.

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass das vorlegende Berliner Kammergericht in Randnummer 33 seines vom 16. Oktober 2015 datierenden Vorabentscheidungsersuchens bereits ausgeschlossen hat, das Mitbestimmungsgesetz im Fall einer Bejahung der Europarechtswidrigkeit durch den EuGH seinerseits durch transnationale Ausdehnung der Wahlen europarechtskonform auszulegen. Würde der Bundesgerichtshof der Auffassung des Kammergerichts folgen, dann wären transnationale Konzerne mit deutscher Mitbestimmung unmittelbar verpflichtet, die Arbeitnehmervertreter aus den Aufsichtsräten zu entfernen (ich danke Florian Rödl herzlich für seine Nachhilfe in diesem Punkt). Der größte anzunehmende Unfall wäre also größer als von Vertretern der optimistischen Auffassung angenommen.

Fazit

Alle drei hier diskutierten Deutungen laufen auf die eine oder andere Art darauf hinaus, die Kommission vor Kritik in Schutz zu nehmen. Die Eingabe der Kommission sei ärgerlich, aber wirkungslos; die Kritik sei auf die Kläger und das vorlegende Gericht zu konzentrieren; selbst im schlimmsten Fall sei der Schaden letztlich überschaubar. Stets steht am Ende der Überlegung eine Relativierung der Schwere des von der Kommission angerichteten Schadens. Angesichts der hier erfolgten Klarstellungen wäre die Abschirmung der Kommission vor Kritik ein Fehler.